Eppstein, Dr. Paul

1901-1944

Eppstein war eine führende Persönlichkeit der deutschen Juden.

Er wurde in Ludwigshafen geboren und studierte in Mannheim Soziologie. Seine Lehrer waren Max Weber, Karl Jaspers und Karl Mannheim. Mit 26 Jahren wurde er Dozent für Soziologie an der Mannheimer Handelshochschule. 1929 wurde er zum Direktor der Volkshochschule in Mannheim ernannt, die sich in weniger als vier Jahren zu einem der wichtigsten Institute dieser Art in Deutschland entwickelte.

Nach Hitlers Machtübernahme 1933 wurde die Schule geschlossen. Eppstein ging nach Berlin. Er wurde zunächst in den Zentralausschuss der Deutschen Juden für Hilfe und Aufbau berufen, dann in den Landesverband jüdischer Gemeinden in Preußen.

Im gleichen Jahr noch wurde Eppstein aufgefordert, in den Vorstand der Reichsvertretung der Deutschen Juden einzutreten, wo er vor allem mit Verwaltungsfragen und sozialen Aufgaben beschäftigt war. Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 erhielt Eppstein eine Einladung aus England zu Vorlesungen in Soziologie. Er lehnte das Lehrangebot jedoch ab, weil er Deutschland nicht verlassen wollte. Er behielt seine Arbeit in der neuen Reichsvereinigung der Juden in Deutschland 1939–1943 bei. Sein Aufgabenbereich wurde erweitert, vor allem in Hinblick auf seine Kontakte mit den Behörden und Auswanderungsfragen.

In den Jahren seiner Arbeit für die Reichsvereinigung wurde Eppstein mehrfach von der Gestapo verhaftet, so auch im Sommer 1940. Als er im Oktober wieder entlassen wurde, untersagte ihm das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) jede weitere Tätigkeit im Bereich Auswanderung. So konzentrierte er sich auf Verwaltungsaufgaben. Ende Januar 1943, sechs Monate vor der Auflösung der Reichsvereinigung, wurde Eppstein zusammen mit Leo Baeck nach Theresienstadt deportiert. Bei seiner Ankunft machte man ihn zum Vorsitzenden des Ältestenrates der Juden, offiziell zusammen mit Dr. Jakob Edelstein, tatsächlich jedoch sollte er ihn ablösen. Die Meinungen darüber, wie er seine Aufgabe in Theresienstadt bewältigte, gehen auseinander. Auf der einen Seite wird er kritisiert, weil er sich der deutschen Ghetto-Verwaltung nicht widersetzte und sich dadurch seinen Mitgefangenen entfremdete. Andere beurteilen ihn als zuverlässigen Sprecher der Juden, sowohl in Deutschland als auch in Theresienstadt. Im Sommer 1944 kam Eppstein ins Gefängnis, weil (so lautete eine Version) den Deutschen eine Rede mißfiel, die er vor Ghetto-Gefangenen gehalten hatte. Am Tag nach Yom Kippur, am 28. September 1944, wurde Eppstein in der Kleinen Festung erschossen.

Neujahrsrede Eppsteins von September 1944

Am 19. September 1944 hielt der Vorsitzende des Jüdischen Ältestenrates Paul Eppstein anlässlich des Jüdischen Neujahrsfestes 5705 im ehemaligen Speisesaal diese bemerkenswerte Rede, die von mehr als 1.200 Menschen gehört wurde. Augenzeugen berichten, daß der Saal überfüllt war und Hunderte an den Eingängen vom Ordnungsdienst abgewiesen werden mussten.

Historiker nehmen an, daß Eppstein mit dieser Rede der übermütigen Stimmung im Lager begegnen und die Häftlinge von unüberlegten Aktionen abhalten wollte.

Die Stimmung im Lager war ihm zu euphorisch. Am 1. Juli 1944 waren die letzten Transporte in den Osten abgegangen, zweieinhalb Monate lang war man von Transporten verschont geblieben. Die Alliierten waren in der Normandie gelandet und die Gefangenen hofften auf ein baldiges Kriegsende und auf Befreiung.

Eppstein schilderte seinen Zuhörern zunächst, was alles in kürzester Zeit in Theresienstadt geschaffen worden sei, „wie die Wüste in eine Oase verwandelt“ worden war. Er gab einen Überblick über all das, was in den Werkstätten produziert worden war, wie viel man in den Gärten und auf den Feldern geerntet hatte, er sprach über die veränderten sanitären Bedingungen, über die verdienstvolle Arbeit der Ärzte und Schwestern, dankte allen Arbeitern und Beamten, allen, die zum Wohle des Ganzen ihre Pflicht getan hatten. Er wünschte allen Bewohnern Theresienstadts ein glückliches neues Jahr und mahnte sie zu größter Vorsicht und Geduld. Er schloß mit den folgenden Worten: „Ihr kennt nicht die wahre Situation, begreift sie nicht, aber schimpft laut auf mich und die anderen Mitglieder des Ältestenrates. Ihr urteilt ganz falsch über uns. Ich nehme euch das nicht übel, vielleicht würden wir uns an eurer Stelle genauso verhalten. Um eins aber bitten wir inständig: Habt Vertrauen zu uns! Glaubt uns, daß wir nur euer Wohl im Sinn haben. Die Lage erlaubt mir nicht, offen zu sprechen, aber ich will Euch die heutige Situation zumindest mit einem Vergleich skizzieren. Übers Meer fährt ein Schiff. Es ist mit vielen Tausend Passagieren besetzt. Alle sind bereits erschöpft und ungeduldig, weil die Fahrt viel länger dauert, als sie gerechnet hatten. Endlich erblicken sie das ersehnte Festland. Sie nähern sich ihm immer mehr. Doch statt der erwarteten Beruhigung macht sich Nervosität unter den Passagieren breit, die sich noch steigert, als sie bemerken, daß das Schiff jetzt noch langsamer fährt als vorher. Sie laufen zum Kapitän und fragen, wann sie endlich in den sicheren Hafen einlaufen werden. Sie fordern ihn mit Worten, mit Bitten und am Ende mit Beschimpfungen auf, die Fahrt zu beschleunigen, aber er beachtet sie nicht, lässt sie reden, schimpfen, fluchen und er schweigt, ja, erteilt das Kommando, noch langsamer zu fahren. Warum tut er das? Er als einziger weiß, daß an den Stellen, die sie gerade passieren, viele gefährliche Minen lauern, und daß große Vorsicht geboten ist, damit das Schiff nicht gegen eine Mine prallt. Was liegt denn daran, daß sie das Ziel einige Stunden später erreichen, wenn sie es nur heil und ohne Unfall erreichen. So wie dieser Kapitän handeln auch wir. Verlasst Euch auf uns! Habt Geduld, wir werden Euch alle in eine neue Zeit führen.“ Er beendete die Ansprache mit den Worten des Gebets: „Vater unser! Unser König! Trag uns ein in das Buch des guten Lebens.“

Eppstein vertrat in dieser Rede wieder die Auffassung, daß sich Theresienstadt seine Existenz nur durch einen peinlich disziplinierten Arbeitseinsatz sichern konnte. Er hatte die Rede intensiv vorbereitet und sie zuvor Leo Baeck gezeigt, der Eppstein eindringlich vor Unbesonnenheiten warnte. Er unterbreitete den Text auch Rahm, dem Kommandanten, der nichts einzuwenden hatte.

Verhaftung und Ermordung

Man nimmt an, daß Eppstein während seiner Rede bereits von den bevorstehenden Transporten wusste und zwar durch den Leiter der Wirtschaftsabteilung der SS-Dienststelle Ludwig August Bartels.

Offiziell wurden er, Otto Zucker und Dr. Benjamin Murmelstein erst am 23. September informiert. Am 24. September 1944 wurde die Nachricht mit den entsprechenden Anweisungen in den „Mitteilungen der jüdischen Selbstverwaltung“ veröffentlicht, als Termine der ersten beiden Transporte der 26. und 27. September 1944. Am 23. September 1944 wurde nach einer Tagebucheintragung von Willy Mahler von Paul Eppstein ein Abendappell im Hof der Hamburger Kaserne einberufen, an dem mehr als 1.500 Männer teilnahmen. Er teilte den Versammelten mit, daß am Dienstag und Mittwoch zwei Transporte zu je 2.500 Mann ins Reich abgefertigt würden. Diese Nachricht schlug wie ein Blitz ein und machte sofort die Runde im Lager.

Die beiden Transporte sollten erst am 28. und 29. September 1944 und ein weiterer am 1. Oktober 1944 abgehen, aber am 27. September 1944 wurde Eppstein verhaftet, auf die Kleine Festung gebracht und dort ermordet. Um die Ursachen und die Umstände seiner Verhaftung und Ermordung ist viel gerätselt worden.

Karl Rahm hatte Eppstein aufgetragen, den Männern, die mit dem ersten Transport fahren sollten, eine bestimmte Art von Rucksäcken wegzunehmen und abzuliefern. Eppstein wollte das nicht tun, um keine Unruhe heraufzubeschwören und erklärte, daß sich solche Rucksäcke in der „Kleiderkammer“ befänden, die auf der anderen Seite der „Umgehungsstraße“ lag. Von einem Mann der Ghettowache begleitet, begab sich Eppstein dorthin. Beide wurden dort verhaftet, weil sie ohne „Durchlaßschein“ das Lager verlassen hatten, was die SS jederzeit als Fluchtversuch auslegen konnte. Dies kann für die SS ein willkommener Anlass gewesen sein, jedoch nicht der Grund, denn „Durchlaßscheine“ für die Kleiderkammer wurden nicht von der SS, sondern von der Jüdischen Selbstverwaltung (also von Eppstein selbst) ausgestellt.

Wahrscheinlich ist, daß die SS mit Eppstein ein führendes Mitglied der Selbstverwaltung loswerden wollte, jemanden, der zuviel wusste und der bei einem damals befürchteten Aufstand im Protektorat auch für die SS im Ghetto als Risikofaktor gesehen wurde. Eppstein war, wie die folgenden Tage zeigen sollten, nur der Anfang. Mit den nun einsetzenden Herbsttransporten wurden viele jüdische Funktionäre aus leitenden Positionen in die Transporte eingereiht und in Auschwitz ermordet.

Die Gefangenen im Lager erfuhren lange nichts vom Schicksal Eppsteins. Benjamin Murmelstein, der von der SS nach Eppsteins Verhaftung zum Judenältesten gemacht wurde, sagte im Prozess gegen die SS-Verbrecher vor dem Leitmeritzer Volksgericht 1947 aus: „Am 28. September wurde ich auf die Dienststelle gerufen. Rahm rief mich in seine Kanzlei hinein. Auf einmal öffneten sich die Türen, durch die eine kam Ernst Möhs herein, von der anderen Seite fast gleichzeitig Eppstein. Rahm warf dann Eppstein vor, daß er ihn sah, wie er mit einem Gendarmen bei der Dresdener Kaserne Streit hatte, dem er erklärte, daß er von Rahm die Bewilligung habe, jederzeit das Ghetto zu verlassen. Möhs warf ihm das gleichfalls mit den Worten vor: ‚Ich lasse Sie einsperren bis zum Abgang des Transportes. Das kann man als Flucht ansehen.’ Eppstein wurde aufgefordert, uns die Aktentasche zu übergeben. Dann kam (SS-Scharführer) Haindl und führte Eppstein ab. Auch Rahm ging fort, ich musste etwa eine halbe Stunde warten, dann kam Rahm zurück und gab uns den Befehl, dem Ältestenrat zu sagen, daß Eppstein wegen Fluchtversuch verhaftet worden sei.“

Nach Aussagen von Heinrich Scholz und Theodor Hohaus vor dem Außerordentlichen Volksgericht in Leitmeritz im Jahre 1947 wurde Eppstein am 27. September 1944 zwischen 15.00 und 16.00 Uhr in einem gedeckten LKW in die Kleine Festung geschafft. Chauffeur des LKWs war Hans Wostrel, ein brutaler SS-Hauptscharführer, der zur Zeit der Besichtigung durch die Kommission des Internationalen Roten Kreuzes am 23. Juni 1944 in Zivilkleidung den beflissenen Chauffeur Dr. Eppsteins gespielt hat. Eppstein wurde von mehreren SS-Offizieren aus dem Ghetto gebracht. Während sie zum Kommandanten des Gestapogefängnisses Kleine Festung, Heinrich Jöckl, gingen, nahm sich der Vertreter Jöckls, Wilhelm Schmidt, Eppsteins an. Schmidt zwang ihn, auf die Frage nach seinen Namen zu antworten: „Stinkjude Eppstein.“

Einer der Aufseher, Theodor Hohaus, hörte, wie ihn Schmidt verspottete: „Na, komm einmal mit, ich werde Dir eine Wohnung zeigen, wo Du das Ausreisen vergisst.“ Schmidt führte ihn zum Hinrichtungsplatz. Jöckl befahl dann dem Leiter der Werkstätten, Sternkopf, die Herstellung von vier Särgen, drei sollten mit Holz im Gewicht eines Menschen gepackt werden und „in den vierten den Kerl“. An der Arbeit mit den Särgen durfte kein Häftling teilnehmen. Noch am selben Tag oder spätestens am nächsten wurden die Särge ins Krematorium gefahren. Jöckl rief alle, die von diesen Vorkommnissen wussten, zu sich und sagte ihnen: „Meine Herren, ich erwarte von Euch, daß Ihr über diese Angelegenheit strengstes Stillschweigen bewahrt, es ist eine Sache von weittragender Bedeutung.“

Die SS-Kommandantur täuschte noch lange danach vor, daß Eppstein noch am Leben sei. Seine Frau Hedwig musste jeden Tag einen Topf mit Essen für ihn in der Kommandantur abgeben. Eppstein wurde noch in der Lagerevidenz geführt, schließlich in einen Transport eingereiht, mit dem er als ob abfuhr.

Hedwig Eppstein wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und gleich nach ihrer Ankunft im Gas ermordet. Die Beseitigung Eppsteins, des unbequemen Zeugen, stand wohl im Zusammenhang mit der Beseitigung aller weiteren ähnlichen Geheimnisträger als Zeugen des jüdischen Genozids. Ob Eppsteins „Fluchtversuch“ inszeniert war und ihm eine Falle gestellt wurde oder ob es nur eine Improvisation war, kann heute nicht mehr ermittelt werden.

Quellen

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    148. Enzyklopädie des Holocaust , Bd. I Piper, , München/Zürich 1998 , S. 417f.
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    769. Hans Günther Adler , Theresienstadt 1941 - 1945, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft Mohr - Verlag, , Tübingen, 2. Aufl. 1960 , S. 735.
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    770. Miroslav Kárný , Die Theresienstädter Herbsttransporte 1944 in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1995 Academia-Verlag, , Prag , S. 12f.
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    771. Miroslav Kárný , Die Theresienstädter Herbsttransporte 1944 in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1995 Academia-Verlag, , Prag , S. 7ff.
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    781. Richard Feder , Jüdische Tragödie – Letzter Akt, Theresienstadt 1941 – 1945 – Bericht eines Rabbiners Verlag für Berlin Branden S. 91,
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    782. Hans Günther Adler , Theresienstadt 1941 - 1945, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft Mohr - Verlag, , Tübingen, 2. Aufl. 1960 , S. 192.
  • 783
    783. Miroslav Kárný , Die Theresienstädter Herbsttransporte 1944 in Theresienstädter Studien und Dokumente 1995 Academia-Verlag, , Prag , S. 11f.

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