Leitung des Ghettos
„Die jüdische Leitung hatte es unsagbar schwer. Selbst größte Lauterkeit hätte es nicht verhindern können, daß die Summe ihrer Entscheidungen, absolut verstanden, schlecht gewesen wäre. Der Leitung wäre keine andere Freiheit geblieben als Selbstvernichtung, wenn sie jenen Widerstand geleistet hätte, den ein unbedingt Gutes dem Bösen entgegensetzt. Aber in den gesteckten Grenzen hätte unendlich viel Gutes getan werden können. Die konservierenden Sonderpläne der SS mit diesem Lager hätten sich besser zum Vorteil tausender Menschen nutzen lassen. Hier beginnt jenseits der rein tragischen eine viel gemeinere Schuld der Leitung. Die unsittlichen Grundsätze der Umwelt mußten nicht so bedenkenlos übernommen werden. Ein viel entschiedenerer Kampf gegen Schmutz, Bestechlichkeit, Diebstahl und schlimmste Protektionswirtschaft war möglich, die hier doppelt und zehnfach verbrecherisch waren. Fast alles, um diese Dinge zu bessern, unterblieb. Die Leitung war uneinig, Verdacht, Mißtrauen und niedrige Gesinnung gingen häßliche Wege.
Groß waren die Rechte, die der Leitung offiziell oder geduldetermaßen zustanden. Zu wenig und viel zu kurze Zeit lehnte Edelstein für die leitenden Funktionäre Sonderrechte ab, mit denen die SS ihn köderte. Zu bald lebte sich eine bevorzugte Klasse als führende Gesellschaft ein, wozu Edelstein schwieg, auch blieb er selbst nicht ganz unbeteiligt. Als sein Einfluss sank und er endlich fiel, war die Korruption der Oberschicht bereits so fortgeschritten, daß alles einem Sumpfe glich. In Klüngeln hielt man zusammen und konnte jeden energischen Angreifer fällen. Leo Baeck, Robert Stricker und Karl Loewenstein wurden nicht müde entgegenzuwirken, ohne je entscheidende Erfolge zu erringen. Loewenstein brach über seinem Draufgängertum zusammen. Die Männer, die ab 1943 das Feld beherrschten, waren nicht mehr gewillt, Wandel zu schaffen und schlossen sich bedenkenlos dem allgemeinen Treiben an.
Und nun folgte Schuld auf Schuld: Die Schutzlosigkeit der Gebrechlichen, die man schädigte und nicht nach dem Gebote „du sollst Vater und Mutter ehren“ behandelte, die Unmenschlichkeit, mit der man das Unmenschliche des Lagers vermehrte, zumindest duldete, statt es zu mindern. Trotz manchen schönen Worten ließ man Gemeinschaftsdiebstahl und Raub an der Habe der Neulinge zu, Raub und Diebstahl, der sich als tausendfacher Mord ausgewirkt hat, obwohl den leitenden Funktionären im eigenen Kompetenzbereich viele ungenützte Mittel zu Gebote standen, wenn schon nicht Ordnung, so doch erträgliche Zustände zu schaffen – Kontrollen und Strafen wie Schreibverbot, Beschlagnahme von Paketen und Verlust des Amtes hätten Wunder gewirkt!
Junge tschechische Juden sangen ein Lied, daß die Spitzenfunktionäre in einem deutsch-tschechischen Mischtext durchhechelte:
Mein Vater ist im Ältestenrat.
Krade rad, Krade rad, Krade rad.
Krade rad heißt: er stiehlt gern. ...........Dennoch beleuchten (diese Worte: J.W.) sie, die allgemeine Moral, die in einer Gemeinschaft gefunden wird.
Der Judenälteste erschien als Herrscher des „Ghettos“ mit diktatorischen Befugnissen. Er war viel mehr als Bürgermeister oder Präsident, er war unbeschränkter Herrscher – soweit ihn die SS nicht einschränkte. Fast alles im „Ghetto“ geschah in seinem Namen. In seinem Namen wurde Recht gesprochen und begnadigt. Er bestimmte die Politik der Gemeinschaft und er allein war der SS gegenüber für alles verantwortlich. Dem Lager gegenüber mußte er sich theoretisch nicht verantworten, für seine Maßnahmen mußte er den Gefangenen nicht Rede stehen. Alle in seinem Namen ausgeübten Funktionen gewannen Rechtskraft durch die Repräsentation seiner Stellung. Darum war jeder Gefangene unmittelbar ihm verantwortlich, solange nicht die SS intervenierte. In seinem Namen bestätigte die „Personalkanzlei“ die wichtigeren Angestellten der Selbstverwaltung und berief sie ab. Als einzigem Juden stand ihm das grundsätzliche, wenn auch beschränkte, Recht des Verkehrs mit dem Kommandanten der SS zu, dessen Befehle er entgegennahm und dem er Bitten und Wünsche vortragen durfte, während der Vorschrift nach sonst kein Gefangener einen SS-Mann anreden durfte., außer wenn „Gefahr im Verzuge“ war.
Es ist schwierig, seine Lage zu würdigen. Da er dem letzten SS-Mann gegenüber ohnmächtig war, verlor seine Stellung nach innen hin jeden Glanz. So stand der Judenälteste zwar als Oberhaupt da – doch mit gebundenen Händen. Er konnte beneidet, geliebt, gefürchtet und gehaßt werden – aber er war machtlos. Seine Beschlüsse und Befehle, ob gut oder schlecht, konnten zwar Schicksale bestimmen, ein Leben retten oder verdammen, aber sie hatten dennoch kein Gewicht. In einem unvergleichlich höheren Maße als in einer normalen Gesellschaft hing unendlich viel von seiner Persönlichkeit ab. Keiner seiner persönlichen Vorzüge mußte seinen Untergebenen bereits wirklichen Gewinn bringen, doch jeder Fehler in der eigenen Lebensführung und Schwächen in Klugheit, Voraussicht, Auftreten, Mut, kurz, in allen Eigenschaften, ja schon ein Irrtum, mußten sich unbedingt für die Gemeinschaft verhängnisvoll auswirken.
Die Welt des „Ghettos“ spielte sich in so beängstigend engen Kreisen ab, daß jede Maßnahme unmittelbar Leben oder Tod bedeuten konnte..........“
Zur Kritik an der hier wiedergegebenen Darstellung von H. G. Adler s. Karl Loewenstein (der Verf.).
Struktur des Ältestenrates
- Vorsitzender des Ältestenrates
- Stellvertreter
- Zentralsekretariat
- Personalkanzlei
- Dem Vorsitzenden des Ältestenrates direkt unterstellt waren die Ghettowache, die Detektivabteilung und die Bank der jüdischen Selbstverwaltung.
I
- Amt für innere Verwaltung
- Gebäudeleitung
- Zentralevidenz
- Matrikel- und Beerdigungswesen
- Raumwirtschaft
- Transportleitung
- Post und Verkehr
- Rechtswesen
II
- Wirtschaftsabteilung
- Zentrale Proviantlagerung
- Zentrallager
- Landwirtschaft
- Gewerbebetriebe
- Spedition
- Produktion
III
- Technische Abteilung
- Bauausführung
- Wasserreservat
- Kanalisation
- Strassenbau
- Eisenbahnbau
- Installation
- Wärmetechnik
- Technische Gebäudeverwaltung
- Arbeitszentrale
- Arbeiterkartei
- Einsatzstellen
- Fraueneinsatz
- Einsatz für Jugendliche
- Arbeitskontrolle
- Arbeiterbetreuung
IV
- Finanzabteilung
- Zentrale Buchhaltung
- Produktionsbuchhaltung
- Bezugsscheinstellen
V
- Gesundheitswesen
- Gesamte Evidenz
- Krankenfürsorge
- Heilmittellager
- Amtsarzt
- Entwesung
- Fürsorgeabteilung
- Jugendfürsorge
Geschäftsordnung des Ältestenrates
Die nachfolgender Geschäftsordnung wurde von Janowitz ausgearbeitet, immer wieder verändert und dann angenommen:
- An der Spitze des Ghettos steht der Judenälteste.
- Ihm nachgeordnet ist der Judenälteste-Stellvertreter, der mit dem Judenältesten alle Belange leitet.
- Der Ältestenrat bildet das beschließende Organ des Ghettos und besteht aus dem Judenältesten, seinem Stellvertreter, den Leitern der Abteilungen III bis VII und ihren Stellvertretern und dem Zentralsekretär.
- Die Mitglieder des Ältestenrates werden vom Judenältesten ernannt. Neuernennungen und Umbesetzungen nimmt der Judenälteste nach Anhörung des Ältestenrates vor.
- Der Ältestenrat beschließt über grundsätzliche und für das Leben des Ghettos Richtung gebende Fragen. Als solche werden angesehen:
a) Angelegenheiten, die das ganze Ghetto betreffen und den vorgesetzten Behörden zur Entscheidung vorgelegt werden. Dies bezieht sich auf die Gründung und Auflösung von Abteilungen des Ältestenrates.
b) Interne Entscheidungen, die geeignet sind, Veränderungen im Leben des Ghettos herbeizuführen, wie z. B. grundlegende Änderungen in den Fragen der Ernährung, Unterbringung, Arbeit usw..
c) Angelegenheiten, die geeignet sind, die Eintracht und das friedliche Zusammenleben der Ghettoinsassen zu beeinflussen.
- In allen übrigen Fragen entscheidet jeweils der Judenälteste oder sein Stellvertreter, ob sie auf die Tagesordnung des Ältestenrates gelangen sollen.
- Der Judenälteste und sein Stellvertreter erachten sich in den prinzipiellen wichtigen Fragen an die Entscheidungen des Ältestenrates gebunden. Sollte jedoch vom Ältestenrat ein Beschluß gefaßt werden, der nach Überzeugung des Judenältesten oder seines Stellvertreters nicht vertretbar ist, wird ihnen das Recht eingeräumt, den Beschluß mit Begründung abzulehnen.
- Der Ältestenrat tritt zusammen:
a) zu regelmäßigen Sitzungen mindestens einmal wöchentlich.
b) Zu außerordentlichen Sitzungen über Einberufung durch den Judenältesten oder seinen Stellvertreter.
c) Zu außerordentlichen Sitzungen über den Antrag von mindestens 5 Mitgliedern des Ältestenrates.
- Den Vorsitz im Ältestenrat führt der Judenälteste, in seiner Abwesenheit der Judenälteste-Stellvertreter.
- Das Zentralsekretariat ist verpflichtet, jede ordentliche Sitzung des Ältestenrates allen seinen Mitgliedern mindestens 24 Stunden vorher bekanntzugeben. Bei außerordentlichen Sitzungen ist diese Frist nicht erforderlich. Wichtige Anträge, die in der ordentlichen Sitzung behandelt werden sollen, müssen ordnungsgemäß schriftlich beim Zentralsekretariat in 13facher Ausfertigung eingereicht werden. Das Zentralsekretariat sorgt für die rechtzeitige Zustellung dieser Abschrift an die Mitglieder des Ältestenrates.
- Sämtliche 13 Mitglieder des Ältestenrates sind stimmberechtigt. Die Entscheidungen erfolgen mit einfacher Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit entscheidet der Vorsitzende.
- Der Ältestenrat ist bei Anwesenheit von mindestens 9 Mitgliedern, darunter der Judenälteste oder sein Stellvertreter, beschlußfähig. Ist eine beschlußfähige Sitzung nicht zu erzielen, dann entscheiden der Judenälteste in Beratung mit den anwesenden oder erreichbaren Mitgliedern des Ältestenrates und berichtet der nächsten Vollsitzung des Ältestenrates.
- Ergibt sich die Notwendigkeit, daß der Judenälteste oder sein Stellvertreter eine sofortige Entscheidung treffen muß, ohne daß eine Möglichkeit gegeben wäre, den Ältestenrat einzuberufen, so hat der Judenälteste oder sein Stellvertreter nach Fortfall des Hindernisses den Ältestenrat einzuberufen und über die getroffene Entscheidung zu berichten, sowie die Dringlichkeit zu begründen.
- Die Mitglieder des Ältestenrates haben Zutritt zu allen Büros und Betrieben des Ältestenrates und können bei allen Sitzungen und Kommissionen der Abteilungen zugegen sein.
- Die Mitglieder des Ältestenrates sind an die Beschlüsse des Ältestenrates gebunden und verpflichtet, über den Inhalt und Verlauf der Beratung Stillschweigen zu wahren. In ihren Funktionen als Abteilungsleiter unterstehen sie den Weisungen des Judenältesten bzw. des Judenältesten-Stellvertreters, für deren Durchführungen sie in ihren Abteilungen dem Judenältesten oder seinem Stellvertreter verantwortlich sind.
Gemäß Beschluß des Ältestenrates vom 2. Juni 1942
Die Sitzungen fanden gewöhnlich am Sonntagvormittag statt und dauerten bis zu drei oder vier Stunden. Sie wurden vom Judenältesten eröffnet und geschlossen.
Lagerordnung
Allgemeine Ordnung der Jüdischen Selbstverwaltung (besondere Lagerordnung) laut Genehmigung des Herr Lagerkommandanten SS-Hauptsturmführer Dr. Seidl vom 5. Januar 1943 mit Ergänzung vom 2. Mai 1943
A Allgemeiner Teil
§ 1
Jeder Ghettoinsasse ist zur strengsten Befolgung der Vorschriften
und Anordnungen verpflichtet. Verstöße dagegen werden bestraft.
§ 2
Das höchste jüdische Organ ist der ÄR (Ältestenrat) unter Leitung des JÄ (Judenältesten).
§ 3
Das Ghetto ist in vier Verwaltungsbezirke eingeteilt. An der Spitze jedes Bezirkes steht der Bezirksälteste, die Leitung der Gebäude liegt in den Händen der Gebäudeältesten.
§ 4
Für jedes Haus ist ein Hausältester bestellt, für jede Gruppe von Häusern resp. für jeden Teilabschnitt ist ein Gruppenältester bestimmt. Er ist für Ruhe, Ordnung und Reinlichkeit in seinem Abschnitt verantwortlich und sorgt für die Durchführung der Anordnungen des Gebäude- bzw. Bezirksältesten und höheren Stellen in seinem Abschnitt.
§ 5
In jedem Zimmer ist ein Zimmerältester bestellt, der in seinem Zimmer für Ruhe, Ordnung und Reinlichkeit verantwortlich ist.
Es ist seine Pflicht, den Insassen seines Zimmers die von höheren Stellen erlassenen Verfügungen bekanntzugeben. Seinen Anordnungen haben alle Insassen des Zimmers Folge zu leisten.
§ 6
Die Reinigung des Hofes, der Gänge, Stiegen, Waschräume und Aborte besorgen die eingesetzten Putz- und Reinigungskolonnen.
Ihre Leiter sind verantwortlich für die tägliche gründliche Reinigung.
§ 7
Das Essen muß zimmerweise in geschlossenen Reihen unter Führung des Zimmerältesten abgeholt werden.
§ 8
Für die Gesundheit der Insassen sorgen die bestellten Ärzte. Ihnen werden die Kranken zur festgesetzten Stunde vorgeführt. Schwerkranke werden von den Ärzten auf ihren Zimmern besucht. Die Ärzte sorgen für den Transport ins Krankenzimmer. Ihnen obliegt auch die Aufsicht über die Einhaltung sanitärer Vorschriften in den Zimmern.
§ 9
Für die Sicherheit des Lebens und des Eigentums der Insassen sorgt die Ghettowache. Ihren Anordnungen muß Folge geleistet werden.
§ 10
Die Arbeitsverteilung erfolgt durch die Einsatzstellen. Jeder, der zur Arbeit bestimmt wird, ist verpflichtet, die ihm aufgelegte Arbeit zeitgerecht nach bestem Können und Wollen durchzuführen. Eigenmächtiges Verlassen der Arbeitsstätte wird als Arbeitsverweigerung gewertet und gemäß der Lagerordnung geahndet. Die Marschkolonne am Wege vom und zum Arbeitsplatz darf nicht verlassen werden. Die Anordnungen des Leiters der Arbeitskolonne sind unverzüglich durchzuführen.
§ 11
Vorgesetzter ist jene Person, die durch die berufenen Organe zur Anordnungserteilung ermächtigt ist.
§ 12
Vorgesetzte dürfen nur im Rahmen der ihnen erteilten Vollmachten Anordnungen und Verfügungen treffen.
§ 13
Anordnungen und Verfügungen sind in einer allen verständlichen Form zu treffen.
§ 14
Der Bezirks- bzw. der Gebäudeälteste kann bei Ordnungswidrigkeiten resp. Disziplinarverstößen gegen die in den §§ 3 und 4 genannten Anordnungen, soweit sie von Ghettoinsassen innerhalb der Häuser seines Bezirkes und deren Höfen, resp. innerhalb der Gebäude und der dazu gehörenden Höfe begangen werden, folgende Strafen verwenden:
Ordnungsstrafen
- Strenger Verweis
- Arbeit während der freien Zeit, höchstens an 3 Tagen durch 4 Stunden
- Entzug der Tagesbrotration
- Entzug einer warmen Mahlzeit
- Entzug einer warmen Tageskost
- Geldstrafe bis zum Höchstbetrag von 50 GK (Ghetto-Kronen)
- Disziplinarstrafen
- Geldstrafe bis zur Höhe einer monatlichen Barauszahlung
- Entzug der Freiheit nach der Arbeit mit oder ohne Anwendung von Id und e höchstens an 3 Tagen (Entzug der Ausgeherlaubnis)
- Entzug der Freiheit bis höchstens 8 Tage mit oder ohne Anwendung von Id und e.
- Entzug des Brotes und der Warmkost darf nur für 24 Stunden erfolgen
- Disziplinarstrafen sind nach Rechtskraft in das vom Gebäude- bzw. Bezirksältesten geführte Strafregister einzutragen.
Ordnungsstrafen werden nicht registriert.
Ist der Schuldige wegen seiner Tat bereits durch das Ghettogericht bzw. vom Leiter des Sicherheitswesens (Anm. jetzt der Detektivabteilung) bestraft worden, so scheidet Strafbefugnis des Gebäude- bzw. Bezirksältesten aus.
§ 15
Vor Anwendung der Strafmittel muß die dem Beschuldigten zur Last gelegte strafbare Handlung festgestellt werden.
§ 16
Gegen Insassen, die dreimal disziplinarisch vorbestraft wurden, wird strafrechtlich eingeschritten.
§ 17
Gegen Ordnungsstrafen (§ 14 I) ist binnen drei Tagen nach Verkündigung bzw. Zustellung die mündlich oder schriftlich beim Gebäude- bzw. Bezirksältesten, der die Strafe verhängt hat, anzumeldende Beschwerde an die Berufungskammer des Ghettogerichts zulässig.
Die Beschwerde kann insbesondere die Unzulässigkeit oder Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend machen und sich gegen den Ausspruch über Schuld und Strafe richten.
Die Berufungskammer des Ghettogerichts entscheidet nach durchgeführter Verhandlung in der Sache endgültig, falls der Bezirks- bzw. Gebäudeälteste nicht im eigenen Wirkungskreise der Beschwerde stattgegeben hat. Bei dieser Verhandlung führt die Funktion des öffentlichen Anklägers ein rechtskundiger Vertreter der Abteilung für innere Verwaltung. Die Verhandlung einer schweren Strafe durch das Berufungsgericht ist nicht ausgeschlossen.
B Besonderer Teil
§ 1
Die Ghettoinsassen haben jeden Angehörigen des Lagerkommandos, der SS-Wache und der Regierungsgendarmerie durch Abnehmen der Kopfbedeckung zu grüßen. Frauen haben sich zu verneigen. Darüber hinaus ist jeder Uniformträger zu grüßen.
(Grußpflicht wurde am 4.3.44 aufgehoben)
§ 2
Bei Ansprache ist sofort straffe Haltung anzunehmen.
§ 3
Sofern nicht anders angeordnet, ist jeweils ein Abstand von einem Meter zu bewahren.
§ 4
Den Ghettoinsassen ist es grundsätzlich verboten, den unter § 1 genannten Personenkreis unaufgefordert anzusprechen. Ausgenommen sind jene Fälle, in denen Gefahr im Verzuge ist.
§ 5
Vorsprachen beim Lagerkommando sind grundsätzlich verboten. Eine Ausnahme macht lediglich der Judenälteste bzw. sein Stellvertreter.
§ 6
Die Ghettoinsassen haben Anordnungen von Angehörigen des Lagerkommandos, der SS-Wache und der Gendarmerie bedingungslos und sofort nachzukommen.
§ 7
Das Gleiche gilt für Anordnungen jüdischer Organe.
§ 8
Den Ghettoinsassen ist es gestattet, einmal im Monat zu schreiben. Für Angehörige des ÄR gilt Sonderbestimmung. Der Postverkehr von Kaserne zu Kaserne ist erlaubt. Briefschmuggel wird mit dem Tode bestraft. Der Versuch wird der Tat gleichgestellt.
§ 9
Den Ghettoinsassen ist die Benutzung des Fernsprechers grundsätzlich verboten. Ausnahmen bedürfen der Genehmigung des Lagerkommandanten.
§ 10
Unberechtigtes Verlassen des Ghettos gilt als Fluchtversuch.
Die Gendarmerie ist ermächtigt, bei Fluchtversuchen sofort von der Schußwaffe Gebrauch zu machen.
§ 11
Das Betreten für Ghettoinsassen nicht zugelassenen Geländes ist grundsätzlich verboten. Ausnahmen bedürfen der Genehmigung des Lagerkommandanten.
§ 12
Lärmen ist strengstens verboten.
§ 13
Gänge, Höfe und Straßen sind peinlich reinzuhalten. Der Ghettoinsasse, der Papier, Stroh usw. umherliegen sieht, hat ohne weitere Aufforderung diese Dinge sofort aufzuheben und in die dafür bestimmten Behälter zu werfen.
§ 14
Das freie Ausspucken ist strengstens verboten.
§ 15
Männliche Ghettoinsassen tragen das Haupthaar 3 mm lang, weibliche im kurzem Herrenschnitt. Jeder Insasse hat innerhalb 3 Wochen einmal zum Friseur zu gehen. Für Angehörige des Ältestenrates gilt Sonderverfügung.
§ 16
An Begräbnissen oder Verbrennungen dürfen Verwandte ersten Grades teilnehmen.
Lagerkommandant Dr. Seidl e.h., SS-Hauptsturmführer
Neujahrsproklamation des Ältestenrates
Tagesbefehl vom 11. September 1942
"An alle Ghettoinsassen. Zum erstenmal seit Bestand des Ghettos Theresienstadt feiern wir das Neue Jahr.
Der Ältestenrat wünscht aus diesem Anlaß allen Ghettoinsassen das Beste und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß es auch im kommenden Jahr möglich sein wird, mit Erfolg zu arbeiten und das kameradschaftliche Zusammenwirken zu sichern.
Der Ältestenrat dankt zum Jahreswechsel allen Arbeitern in den Werkstätten, Betrieben und anderen Arbeitsstätten, den Betreuern und Pflegern, sowie allen Mitarbeitern in den Kanzleien für ihre aufopfernde Arbeit und ruft alle Ghettoinsassen gleichzeitig auf, weiterhin eiserne Disziplin zu bewahren und alle Kräfte für eine erträgliche Gestaltung des Daseins der Gemeinschaft einzusetzen.“
Im gleichen Tagesbefehl ist die nüchterne Nachricht zu lesen, daß der Transport BK mit 1.000 Personen aus dem Ghetto Theresienstadt in den Osten abgegangen ist. Nur 4 Menschen aus diesem Transport, dem 111 Kinder angehörten, sind nach dem Krieg heimgekehrt.
Erklärung des Ältestenrates vom 9. November 1944
„Die Juden in Theresienstadt haben in diesen letzten Wochen ihren Sinn für Ordnung, Disziplin und gemeinschaftliche Verantwortung neuerlich unter Beweis gestellt. Besonders soll die Leistung jener Mitarbeiter hervorgehoben werden, welche ein Vielfaches ihrer bisherigen Aufgaben zu erfüllen haben und ihren Pflichten unermüdlich nachkommen.
Die Neugestaltung des Ältestenrates und die Neubildung der jüdischen Selbstverwaltung sind im Zuge. Inzwischen gilt es dafür zu sorgen, daß den Lebensnotwendigkeiten des jüdischen Siedlungsgebietes.....nach wie vor im vollem Umfange genüge geleistet wird, als auch dafür, daß sämtliche Arbeiten unbeeinträchtigt fortgesetzt werden.“
Im Dezember 1944, nach den verheerenden Herbsttransporten, wurde ein neuer ÄR mit je einem Vertreter aus fünf Ländern ernannt. Den Vorsitz führte Leo Baeck, dem auch die Vertretung des Judenältesten Murmelstein übertragen wurde. Mitglieder waren außer Baeck und Friediger für die deutschen und dänischen Juden für die Österreicher Dr. Heinrich Klang (Leiter der „Rechtsabteilung“), für die Tschechen Dr. Alfred Meissner, für die Holländer Prof. Dr. Eduard Meijers. Bis auf Murmelstein bestand der Ältestenrat nur aus alten Männern und blieb (auch nach Friedigers Befreiung) bis zum Kriegsende im Amt. In seinen Händen ruhte nach Murmelsteins Entfernung die Verantwortung bis zur Übernahme durch Ingenieur Jiří Vogel.
Kontakte zwischen der SS und dem Ältestenrat
Die SS-Dienststelle (vorher Kommandantur genannt) wurde täglich nur vom Judenältesten und dem Leiter der Wirtschaftsabteilung aufgesucht. Außer an Sonntagen und großen Feiertagen fanden die Treffen zwischen dem Judenältesten und dem Lagerkommandanten jeweils um 8.00 Uhr morgens statt. Der Judenälteste erschien beim Kommandanten oder seinem Stellvertreter.
Zu Burgers Zeiten durfte kein SS-Funktionär mit einem Juden unter vier Augen verhandeln, was Burger auch selbst immer einhielt. Seidl und Rahm verhandelten mit dem Judenältesten oft allein. Die Ergebnisse eines jeden Gespräches mußten vom Judenältesten jeweils in einem „Aktenvermerk“ fixiert werden. Diese bereits in Prag zwischen der Jüdischen Kultusgemeinde und der „Zentralstelle“ genutzte Praxis wurde in Theresienstadt bis Kriegsende fortgesetzt. Die Autorität der SS beschränkte sich hier auf das gesprochene Wort. Das war verbindlich und verpflichtend für die Juden, verpflichtete die SS aber zu nichts, die Verantwortung wurde auf die Juden abgewälzt. So wurde das Lager indirekt von der SS verwaltet und bestimmt und so gibt es kaum schriftliche Befehle und Anweisungen der SS.
- Die Autonomie der Juden blieb scheinbar bewahrt
- Die Diktatur der SS war uneingeschränkt aber verdeckt
- Die SS gab nichts aus der Hand (vor allem keine schriftlichen Befehle) und konnte sich, wie ein Orakel, hinter der jüdischen Exekutive verstecken
- Die SS ersparte sich selbst viel Arbeit
- Die von Heydrich gewünschte jüdische Selbstvernichtung wurde bereits durch die administrative Versklavung vorbereitet, was
- Die Selbstangleichung der Juden an die nationalsozialistische Doktrin förderte, die sich am konsequentesten im System der SS verwirklichte
- Den jüdischen Funktionären wurde ihre Ohnmacht täglich vor Augen geführt
- Ihre Widerstandskraft geschwächt und
- Ihr autoritäres Scheindasein, als gespiegelte Macht, aufrecht erhalten.
Bei seinen Besuchen in der „Dienststelle“ musste der Judenälteste die tägliche „Standmeldung“ überreichen und über die Ausführung von Befehlen berichten. Weitere Punkte waren: Krankenstand, geplante Veranstaltungen, Weisungen aller Art, Ankündigung ankommender oder abgehender Transporte. Die gleich nach den Besuchen verfassten Aktenvermerke wurden ganz oder in Auszügen an die Abteilungen geleitet. Anliegen der Abteilungen wurden dem Judenältesten meist schriftlich zugestellt, damit er sie in der „Dienststelle" vorbringen konnte.
Das „Zentralsekretariat“ gab die „Tagesbefehle“ (später „Mitteilungen der jüdischen Selbstverwaltung“) heraus, außerdem „Rundschreiben“ z. B. an die Hausältesten.
Die SS bekam monatlich und jährlich Tätigkeitsberichte, dazu Sonderberichte zu speziellen Themen. Die Abteilungen und Unterabteilungen mussten ebenfalls Berichte für die Leitung anfertigen. So wurde die Geschichte des Lagers von den Juden selbst geschrieben.
Vermögen der Selbstverwaltung
Nach einer am 18. Juni 1945 erstellten Inventarliste werden folgende Vermögenswerte, Investitionen und verwaltetes Gut festgestellt, das im Eigentum bzw. in der Verwaltung der Selbstverwaltung lag:
Angeführt werden die landwirtschaftlichen und die städtischen Liegenschaften samt den Neubauten, die Investitionen, die sich auf Neubauten, Ausbau von Eisenbahn, Straßen, Wasserwerk, Kanalisation, Elektrizitätsversorgung und landwirtschaftliche Anlagen beziehen, landwirtschaftliche Betriebe (Gärtnereien, Viehzucht und Betriebsmittel), öffentliche Einrichtungen und Betriebe (Feuerwehr, Krematorium, Fernheizwerk, Zentralwäscherei, Krankenhauswäscherei), Versorgungbetriebe (Großbäckerei, drei Bäckereien, Fleischerei, 4 Dampfküchen und 12 weitere Küchen), Gewerbebetriebe (16 Werkstätten), Gesundheits- und sanitäre Einrichtungen (2 Krankenhäuser, Ambulatorien, Siechenheim, Desinfektionsstation, Zentralbad usw.), Inventar (Fahrzeuge, Maschinen, Möbel – z. B. 5.000 Betten und 20.000 Stockbettplätze – Büromaschinen z. B. 300 Schreibmaschinen – Heilgeräte usw.), diverse Materialien und Vorräte (z. B. 10.000 kg Medikamente, 20.000 kg Glimmer, davon die Hälfte fertiger Splitting).