Doron Rabinovici sagt über ihn in seinem Vortrag vom 14. Februar 2002 in Ebensee:
Der 1905 in Lemberg geborene Murmelstein stammte aus einer orthodoxen Familie. Nach dem 1. Weltkrieg kam er nach Wien, wo er an der Universität Philosophie und zur gleichen Zeit an der „Israelitisch-Theologischen Lehranstalt“ studierte. Er schloß 1927 mit dem zweitbesten Zeugnis in der Geschichte dieser Lehranstalt die theologisch-rabbinische Ausbildung ab. Im selben Jahr promovierte Murmelstein und verfasste seine Dissertation „Adam, ein Beitrag zur Messiaslehre“.
Aus dem Gelehrten entwickelte sich ein Administrator, aus dem Intellektuellen ein Bürokrat, aus dem Gottesmann ein Manager im Elend. Murmelstein leitete die Auswanderungsabteilung und sein Aufstieg war auch ein Zeichen für den Bedeutungszuwachs, den die Emigration in jener Zeit erfuhr. Murmelstein begriff, wie die Kooperation mit der Gestapo ablief. Er ging seine Aufgabe mit einer Kälte an, die andere jüdische Beamte nicht an den Tag legten. In gewisser Weise spiegelte sich in seinem Auftreten eine Geisteshaltung wider, die sich der Logik des Terrors unterwarf. Intellektuell hatte Murmelstein akzeptiert, daß mit den Nazis zusammengearbeitet werden musste. Sollten viele Juden gerettet werden, dann hatten sich alle an die Verordnungen der Gestapo zu halten. Er beugte sich dem System und hatte keine Skrupel im Einzelfall. Vorgeworfen wurde Murmelstein, daß er kein Mitgefühl für seine Leidensgenossen zeigte. Doch Murmelstein war noch nach dem Krieg überzeugt, daß ein strenges Auftreten die einzige Möglichkeit darstellte, den damaligen Problemen entgegenzutreten. Der SS durfte keine Handhabe gegen die jüdische Gemeinde geboten werden. Die jüdische Verwaltung hatte selbst für Ordnung und Disziplin zu sorgen. Damals schien unvorstellbar, daß die Kooperation den organisierten Massenmord befördern würde, daß die Nazis nicht die Ausbeutung der Juden, sondern deren Ausrottung betreiben sollte. Die SS folgte keiner Rationalität, sie hielt sich nicht an Abmachungen, die sie nach ihrem Gutdünken änderte. Die Einstellung Murmelsteins unterschied sich nicht von jener anderer jüdischer Funktionäre, bloß seine Haltung, seine konsequente Unberührtheit, war eine andere. Murmelsteins Arbeit rettete von 1938 bis 1940 vielen Menschen das Leben, doch sein Auftreten und seine Herrschsucht brachten ihn in Mißkredit.
1938, noch vor dem Anschluss Österreichs, veröffentlichte Murmelstein eine Anthologie mit Texten von Flavius Josephus, dem einstigen Kommandeur der jüdischen Aufständischen in Galiläa und späteren Chronisten ihres verlorenen Krieges gegen das römische Imperium. Flavius Josephus wird in der jüdischen Historiographie kontrovers beurteilt. Der jüdische Feldherr lief zu den römischen Feinden über, als er den Kampf der Juden gegen sie für aussichtslos hielt, zugleich bewahrte er aber durch seine Schriften die Erinnerung an die jüdischen Kämpfer und verteidigte die Traditionen des Judentums. Murmelstein beendete seine einleitenden Ausführungen über Flavius mit den Sätzen:
„Am Judentum in Treue hängend, steht er auch im Banne der großen Idee des römischen Imperiums. Sein zerrissenes und zweideutiges Wesen läßt ihn daher als Sinnbild der jüdischen Tragik erscheinen.“
Auch als Judenältester von Theresienstadt versuchte Murmelstein durch Kooperation so viele Juden wie möglich zu retten. Er versuchte die Pläne der Nationalsozialisten, aus Theresienstadt ein Vorzeigeghetto zu machen, auszunutzen. Der „Judenälteste“ musste versuchen, sich in die Nationalsozialisten hineinzudenken, dabei immer auf ein Mindestmaß ihrer Rationalität zählend, in der Hoffnung, ihre Vorhaben durchschauen und beeinflussen zu können. In Wahrheit fielen die Beschlüsse der nazistischen Machthaber, ohne auf die Handlungen des Judenältesten Rücksicht zu nehmen. Nach 1945 wurde gegen Murmelstein ein Verfahren eröffnet, aber er konnte sich gegen alle Anklagen wehren und wurde freigesprochen. Rabbiner wurde er nicht wieder. 1947 wurde ihm eine entsprechende Stelle in Triest angeboten, doch er konnte dort nicht bleiben. 1979 sagte er dazu:
„ ...ich war nicht gewillt, mich von einem Geldsack schurigeln zu lassen......ich konnte mich nicht mehr fühlen als der kleine Angestellte der Kille (jiddisch für jüdische Gemeinde), der abhängig vom Vorsteher, vom Nasenrümpfen des Vorstandes ist. Vergessen Sie nicht, in Wien oder in Theresienstadt hat alles getanzt nach meinem Wink...“
In diesen Worten offenbart sich die Geltungssucht Murmelsteins. Er hat es, trotz aller Einschränkungen, genossen, daß in Theresienstadt „ alles nach seinem Wink getanzt hat“. Der ehemalige Judenälteste wollte nicht mehr der kleine Angestellte sein. Murmelstein ließ sich mit seiner Frau und seinem Sohn Wolf in Rom nieder, behielt die österreichische Staatsbürgerschaft und erwarb das ständige Aufenthaltsrecht in Italien. Er versuchte erst erfolglos, einen eigenen Betrieb zu gründen, dann erzielte er als angestellter Möbelverkäufer Gewinne und bewies geschäftliches Talent. Weiterhin arbeitete er wissenschaftlich-theologisch am Pontificio Instituto Biblico des Vatikan.
Murmelstein war kein Kollaborateur. Er kooperierte mit den Nazis, weil er glaubte, bloß auf diese Art Juden retten zu können. Seine Rechtfertigungen können von allen, die sich einfühlen wollen, nachvollzogen werden, und sie entbehren nicht der Logik. Sein Vorgehen unterschied sich nicht von dem anderer jüdischer Repräsentanten, aber sein Auftreten rief Widerwillen hervor.
Murmelstein, der den am 27. September 1944 verhafteten und in der Kleinen Festung Theresienstadt erschossenen Eppstein ablöste, blieb Judenältester bis zu Befreiung.
Murmelstein beendete seine Rolle als Judenältester am Abend des 5. Mai nach einem abschließenden Gespräch mit dem sich auf die Flucht vorbereitenden Kommandanten Karl Rahm. Am nächsten Tag übernahmen andere Mitglieder des Ältestenrates, allen voran Leo Baeck, die Verantwortung. Nach Ankunft der Roten Armee wurde Georg Vogel vom sowjetischen Stadtkommandanten mit der Leitung des Lagers beauftragt. Vogel hatte dem ersten Ältestenrat angehört, war Prager Kommunist.
aus dem Prominentenalbum der Jüdischen Selbstverwaltung vom 1. Januar 1944
siehe auch Prominente und > Das Theresienstadt-Konvolut
- Geb. am 9. Juni 1905 in Lemberg.
- Staatsangehörigkeit: Deutsches Reich.
- Verh. mit Margarethe, geb. Geyer.
- Anzahl der Kinder: 1.
- In Theresienstadt seit dem 30. Januar 1943.
- Mittelschule in Lemberg, Universität in Wien. Abitur.
- 1927 Doktorat der Philosophie/Semitische Sprachen und Literaturen in Verbindung mit Iranistik.
- 1928 Rabbinerprüfung.
- Seit 1931 Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien.
- 1931 - 1938 Dozent an der Israelitischen-Theologischen Lehranstalt in Wien.
- Seit 1938 Leitungsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien.
- Seit 1940 Stellvertreter des Leiters der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien.
- Seit 1942 Mitglied des Ältestenrates der Juden in Wien, Stellvertreter des Judenältesten.
- Diverse religionswissenschaftliche Publikationen.