Bialystoker Kindertransport

Am 6. September 1943 wurden 5.007 Häftlinge auf Befehl des Ghetto-Kommandanten Burger aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Einige Tage vorher war ein seltsamer Transport im Ghetto eingetroffen. Auch Dagmar Lieblová erinnert sich daran: „Es war ein Kindertransport. Bevor dieser Transport ankam, wurde eine strenge Ausgangssperre verhängt. Niemand durfte auf die Straße, nicht einmal ans Fenster. Die SS-Leute führten dann durch die leeren, verlassenen Straßen des Ghettos völlig heruntergekommene, in Lumpen gehüllte, völlig entkräftete Kinder. Sie führten sie zunächst in die Entlausungsstation. Viele der Kinder waren barfuß, andere hatten halbzerschlissene Schuhe oder Holzpantinen an. Sie trugen Reste alter Uniformen oder ganz zerrissene Kleider, hielten sich an den Händen und blickten ängstlich um sich. Vor Angst trauten sie sich nicht zu sprechen, wurde anschließend bekannt.“

Bei der Entlausungsstation waren Kommandant Burger und alle SS-Leute der Kommandantur anwesend. Sie achteten streng darauf, daß niemand vom Betreuungspersonal Kontakt zu den Kindern aufnahm und mit ihnen sprach. Als den Kindern befohlen wurde, sich auszuziehen und in die Entlausungsstation hineinzugehen, wehrten sie sich, begannen laut zu weinen und schrien ständig „Gas, Gas“. Damals konnten sich die Häftlinge nicht vorstellen, was das bedeutet. Die Kinder aber wußten von den Gaskammern im Osten.

Die Kinder waren verlaust und nach dem langen Transport verschmutzt. Mit Gewalt mußten sie entkleidet und ins Bad gebracht werden. 26 Stunden dauerte die Entlausung. Danach wurden sie sauber eingekleidet und in die westlichen Baracken geführt, die durch Stacheldraht eingezäunt und vom übrigen Ghetto abgeschnitten waren. Niemand, auch nicht der Judenälteste, hatte dort Zutritt. Aus dem Lager wurden Ärzte und Pfleger für die Kinder ausgesucht. Dies waren 53 Häftlinge. Sie durften die westlichen Baracken dann nicht mehr verlassen. Dennoch sickerten Gerüchte durch und man erfuhr, daß die Kinder aus Bialystok kamen. Niemand wußte, wieviel Kinder es genau waren, denn sie wurden nicht gezählt und auch nicht in der Lagerkartei geführt. Das Essen wurde in der Ghettoküche (der alten Heeresbäckerei) für sie gekocht. Es waren täglich 1.500 Portionen. Irgendwann tauchte das Gerücht auf, daß die Kinder ausgetauscht , nach Palästina oder in Schweiz fahren würden. Tatsächlich stimmte etwas an diesem Gerücht.
Die Kinder kamen tatsächlich aus Bialystok, das am 27. Juni 1941 von den Deutschen besetzt worden war. Sofort nach dem Einmarsch der Deutschen war es zu Pogromen gekommen. Die Deutschen brannten die Häuser des jüdischen Wohnbezirkes nieder, zündeten die Geschäfte und Fabriken an, trieben alle Juden zusammen und sonderten alle 17–20 jährigen Männer aus, von denen die meisten gleich darauf im Petrascher Land hingerichtet wurden. Eine Woche später begannen die Deutschen damit, in dem Stadtteil „Rubetska“ (Neue Welt) ein Ghetto einzurichten. Mehr als 50.000 Menschen wurden hier zusammengepfercht. Zwei Jahre später, am 16. August 1943 begann um 4.00 Uhr in der Früh die Liquidierung des Ghettos. Es hatte sich im Ghetto Bialystok eine Untergrundbewegung gebildet, die sich verzweifelt zur Wehr setzte und Widerstand leistete. Während des Eichmannprozesses berichteten überlebende Zeugen, daß sich die Widerstandsgruppen stundenlang mit Waffen wehrten, dann überwältigt und zum Bahnhof getrieben wurden. Mehrere Tage lang mußten dort an die 50.000 Menschen warten. Die Deutschen schlugen auf die zusammengedrängt stehenden Menschen ein. Wer Widerstand leistete, wurde sofort erschossen. In dieser Situation verlangte die Gestapo vom Judenältesten Dr. Barasch die Bereitstellung von 1.200 Kindern, die gegen in Palästina gefangene Deutsche ausgetauscht werden sollten. Etwa 400 Kinder kamen aus den beiden Waisenhäusern, der Rest kam von Eltern, die ihre Kinder in der Hoffnung abgaben, sie somit retten zu können. Die Kinder wurden zusammen mit Begleitern unter SS-Bewachung zum Bahnhof geführt und in Waggons verladen.

Nach 3 Tagen und 3 Nächten kam der Transport dann in Theresienstadt an. Tatsächlich hatte es Verhandlungen zwischen deutschen Stellen und britischen Behörden durch Vermittlung neutraler Länder gegeben, in denen es um eine Ausreisegenehmigung für 5.000 Juden aus den von den Deutschen besetzten Ländern ging, getauscht sollten sie werden im Verhältnis 1:4 (1 Jude gegen 4 Deutsche), wobei die deutsche Seite darauf bestand, daß die auszutauschenden Deutschen zeugungs- und gebärfähig sein sollten, d. h., nicht älter als 40 Jahre. Bald fiel jedoch auf deutscher Seite die Entscheidung, daß ein Austausch politisch nicht günstig sei und die Verhandlungen wurden bis in das Jahr 1944 hinein nur noch zum Schein geführt und scheiterten letztendlich. Die Bialystoker Kinder wurden in den geheimen Aufzeichnungen nicht erwähnt. Es kann jedoch durchaus sein, daß die SS die Kinder aus Bialystok sozusagen auf Vorrat gehalten hat.

Die 1.200 bzw. 1.260 Kinder, die am 24. August 1943 im Ghetto Theresienstadt ankamen, verließen das Ghetto am 5. Oktober 1943. Ein Zeuge sagte später vor einem israelischen Gericht aus: „Ich erinnere mich an ein Gerücht, nach dem die Kinder am nächsten Tag mit ihren Betreuern in die Schweiz reisen sollten. Auf Aufforderung von Dr. Munk (dem Leiter des Gesundheitswesens im Ghetto) meldeten sich noch ein Arzt und eine Krankenschwester zusätzlich zu dem Betreuungspersonal. Sie dachten, daß sie mit den Kindern in die Schweiz fahren würden. Am Tage, als die Kinder mit der Bahn abreisen sollten, war ich auf dem Bahnhof in Bohušovice. Aus einer Entfernung von vielleicht 500 Metern sah ich, wie die Kinder in die Eisenbahnwaggons gebracht wurden. Es waren acht Waggons. Ich sah, daß die Deutschen die Kinder in solchen Mengen in die einzelnen Waggons drängten, daß ich dachte, sie würden auf der anderen Seite wieder herausgedrückt. Es waren SS-Leute, die die Kinder in die Waggons pferchten. Es waren dort nur SS-Leute, keine tschechischen Gendarmen, ausgenommen der tschechische Kommandant Janeček. DieserJaneček benahm sich ähnlich brutal wie die SS-Leute und wurde nach dem Kriege aufgehängt. Ich sollte dem Ältestenrat berichten, was mit den Kindern geschieht, war deswegen in Bohušovice.“ Der Zeuge erinnert sich, daß zu dieser Zeit Eichmann in Theresienstadt zu Besuch weilte.

Am 7. Oktober 1943 kam der Transport mit den Kindern in Auschwitz an. Kinder und Betreuer wurden von der Rampe direkt ins Gas geführt. Es kann sich nicht mehr um die gesamte Anzahl gehandelt haben, denn bereits in Theresienstadt waren Kinder aus diesem Transport gestorben. Hans Günther Adler, der Chronist Theresienstadts, schrieb: „ Mehrere Kinder, die an Scharlach und anderen Infektionen erkrankt waren, wurden in der Sokolhalle, die als Infektionshospital diente, in einem Keller isoliert, dann nachts von SS-Männern abgeholt, auf die Kleine Festung gebracht und dort ermordet. Dr. Lagus und auch Herr Polák berichten davon. „Eines Tages kam ein Lastwagen. Damit wurden alle kranken Kinder in die Kleine Festung gebracht und dort erschlagen. Am nächsten Tag brachten die SS-Leute einige Holzkisten. Häftlinge, die im Krematorium arbeiten mußten, berichteten, daß aus den Kisten noch Blut floß. Die Kisten durften nicht geöffnet, sondern mußten so verbrannt werden. Die SS-Leute haben die Verbrennung in diesem Fall selbst besorgt. Den Heizern und den im Krematorium tätigen Ärzten, wurde bei Todesstrafe verboten, darüber zu sprechen“. Diese Angaben wurden von Hauptscharführer Vostrel bestätigt, der Fahrdienstleiter war.

Quellen

  • 196
    196. Hans Günther Adler , Theresienstadt 1941 - 1945, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft Mohr - Verlag, , Tübingen, 2. Aufl. 1960 , S. 154ff.

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