Dagmar Lieblová wurde am 19. Mai 1929 in Kutná Hora/Kuttenberg als Dagmar Fantlová geboren. Kutná Hora ist eine alte mittelböhmische Stadt, etwa 60 Km von Prag entfernt. Im Mittelalter war sie durch die Silberfunde reich und zeitweilig neben Prag zur zweitwichtigsten Stadt Böhmens geworden. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts lebten hier etwa 15.000 Menschen.
„Kutná Hora ist eine typische tschechische Stadt. In unserem Haus wohnte ein Deutscher. Er stammte irgendwo aus dem Grenzgebiet. Später zeigte er sich als Nazi. Zuvor hatte er unauffällig mit uns zusammen gelebt.
Mein Vater war Arzt und meine Mutter versorgte den Haushalt. Ich hatte eine jüngere Schwester, die hieß Rita. Friedlich haben wir in Kutná Hora bis zum Jahre 1939 gelebt.“
In Kutná Hora gab es eine jüdische Gemeinde, der einige hundert Menschen angehörten. “Das Verhältnis zwischen Juden und Christen war bis 1939 unkompliziert. Ich habe vorher nie gespürt, daß ich etwas Bedrohliches sein sollte. Ich hatte nur eine andere Religion. Das hat in der Schule keine Rolle gespielt. Wir waren zwei Jüdinnen in der Klasse, aber niemanden hat das gestört und niemand hat ein Wort darüber verloren.“
Die Familie Fantl war nicht besonders religiös eingestellt, aber die jüdischen Feiertage wurden begangen. Dann besuchten sie die Synagoge, sonst nicht. Am Schabbat durfte Dagmar in die Schule gehen. „Ich durfte aber keine Schularbeiten machen, das wollte meine Großmutter nicht. Dann sagte mein Vater allerdings immer: Dagmar soll am Samstag ihre Schularbeiten machen.“
Die Fantls feierten Weihnachten. „Das war ein großes Familienfest. Da kamen die Verwandten zu uns. Auch in der Oster- und Pessachzeit hatten wir immer Besuch. Wir haben Matzes, ungesäuertes Brot, gekauft und anderes Gebäck selbst gebacken. Meine Mutter hat in dieser Zeit Päckchen für verschiedene Bekannte als Geschenke vorbereitet. So war das damals in einem Städtchen wie Kutná Hora. Die jüdischen und die christlichen Feiertage gingen irgendwie ineinander über. Und in der Nazizeit haben sich die Leute gewundert und gesagt: ‚Ach, Dr. Fantl ist ein Jude. Das haben wir gar nicht gewußt !’“
Dagmars Schwester Rita wurde am 14. März 1932 geboren. In diesem Jahr kaufte die Familie ein schönes, großes Haus mit mehreren Wohnungen. Im Erdgeschoß befand sich die Praxis von Dr. Fantl.
Im neuen Haus wohnte auch ein Sudetendeutscher namens Zoto. „Der war in einer kleinen Schuhfabrik beschäftigt, die einem Juden gehörte.“ Dagmars Großeltern mütterlicherseits zogen 1935 ins Haus. Sie brachten Franziska Holicka mit, ein Dienstmädchen, das schon seit den zwanziger Jahren im Haushalt der Großeltern lebte und zur Familie gehörte. Sie wurde von den Kindern Tante Fany oder Fanynka genannt.
Mit acht Jahren begann Dagmar Deutsch zu lernen. Großeltern und Eltern konnten natürlich deutsch, aber zu Hause wurde es nie gesprochen. „Es war üblich, daß man Sprachen lernte.“ Zwei Jahre später fing der Englisch-Unterricht an. „Damals habe ich nicht besonders gut Deutsch gesprochen und meine Großmutter hat sich darüber aufgeregt.“
Daß „da in Deutschland was passierte“ bekam Dagmar erstmals 1937/38 mit. „Damals tauchte ein älterer Herr, wahrscheinlich ein Rabbiner, bei uns in Kutná Hora auf. Er kam aus Deutschland. Woher, das weiß ich heute nicht mehr. Und der hat damals ein Buch herausgegeben. Ich erinnere mich nur an den Umschlag. Darauf war ein Mann mit einem Schild hinter einem Gitter abgebildet, und dort stand: Jude verrecke im eigenen Drecke.“
Dagmar hörte, wie darüber gesprochen wurde, daß „manche Leute ihre Kinder nach England schicken“. In ihrer Familie war das kaum ein Thema, Rita und sie waren noch zu klein. Aber in der Verwandtschaft gab es eine Tante, die mit ihrem Mann emigrieren wollte. Aber irgendwie kam es nicht dazu.
„Später war da noch ein junger Mann aus dem Grenzgebiet, aus Cheb (Eger). Seine Eltern waren ausgewandert. Er sollte später nachkommen. Aber das ist ihm nicht mehr gelungen. Allein kam er nach Kutná Hora. Meine Eltern haben ihn jeden Sonntag zum Mittagessen eingeladen. Er sagte immer: ´Nach Theresienstadt gehe ich nicht. Aber dieser junge Mann kam trotzdem dorthin. Mein Vater sagte zu ihm in Theresienstadt: ´Sehen Sie, jetzt sind Sie doch hier.´ Er antwortete: ´Nicht alle Wege sind zu.´ Doch er kam nie zurück.'
Anfang 1939 verschwand der aus Deutschland gekommene Rabbiner so plötzlich wieder aus Kutná Hora wie er gekommen war. Es war das Signal für die kommenden Ereignisse.
Am 15. März 1939 marschierten die Deutschen in Kutná Hora ein. Dagmar kann sich gut an diesen Tag erinnern. „Früh kam mein Vater zu mir ans Bett. Er weckte mich und sagte: ‚Wir haben die Republik verloren.’ Dabei weinte er. Das war für mich etwas Außerordentliches, denn ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen.“
Dagmar stand auf und ging zur Schule. Da war es wie immer. “Nur schlechtes Wetter hatten wir.“
Als sie mittags nachhause kam, erzählte der Vater von einer Fahrt zu einem Patienten. Er fuhr mit seinem Auto auf der linken Seite. So ist man damals noch bei uns gefahren. Eine deutsche Kolonne kam ihm entgegen. Die fuhr rechts. Sie hielten ihn an und sagten ihm, daß er auf der rechten Seite fahren solle. Julius Fantl kam tief erschrocken nach Hause.
Eines Tages, es muß ein Feiertag gewesen sein, kam der sudetendeutsche Zoto zu Julius Fantl: „Ich möchte die Fahne mit dem Hakenkreuz heraushängen!“
Dagmars Vater entgegnete: „Herr Zoto, Sie wissen sicherlich, daß an einem jüdischen Haus kein Hakenkreuz hängen darf“. „Naja, ich würde die Fahne nur so zwischen die Fenster hängen.“ Und das tat er dann auch.
Nach einiger Zeit wurde Zoto ´Treuhänder´ in der Schuhfabrik, in der er arbeitete. Nun wollte er in dem Haus des jüdischen Inhabers wohnen, in dem sich auch die Räume der Jüdischen Gemeinde befanden. Zoto ordnete an: “Die Jüdische Gemeinde soll in das Haus von Julius Fantl umziehen.“ Und so geschah es.
Eine jüdische Familie aus Kutná Hora musste, wie auch viele andere, aus ihrer Wohnung ausziehen. „Sie kamen zu uns, in die Räume der Großeltern. Und die zogen mit in unsere Wohnung.“
1940 beendete Dagmar das fünfte Schuljahr. Während der Ferien kam die Anordnung, daß die jüdischen Kinder nicht mehr die Schule besuchen dürften. Die betroffenen Eltern taten sich zusammen. „Mein Vater hat eine Lehrerin gefunden, die bereit war, uns zu unterrichten. Das war nicht selbstverständlich.“
Wie in einer regulären Schule mussten die Kinder Arbeiten schreiben, bekamen Zensuren. „Wir haben eine Menge gelernt“, aber nach einem halben Jahr „ging es nicht mehr“. Es war für die Lehrerin und die Familien zu gefährlich geworden. Jetzt kümmerte sich Sonja, ein älteres jüdisches Mädchen, das mit ihrer Familie in das Haus der Fantls eingezogen war, um Dagmar und ihre Schwester Rita. „Die Lehrerin bereitete die Aufgaben weiter vor und schickte sie uns mit der Post. Nach diesem Plan unterrichtete uns Sonja.“
In die Praxis des Dr. Fantl durften bald nach dem Einmarsch der Deutschen nur noch Juden kommen. Die Nazis befahlen, am Haus ein Schild anzubringen ‚Jüdischer Arzt’.
„Einmal in der Nacht ist jemand gekommen, das muß im Jahre 1941 gewesen sein, und bat ihn um Erste Hilfe. Der Mann hatte eine Augenverletzung. Es war kein Jude. Mein Vater sagte zu ihm: ‚Ich würde Sie gerne behandeln, aber ich darf es nicht. Es ist mir strengstens verboten. Es gibt in Kutná Hora viele andere Ärzte.’ Der Mann erwiderte: ‚Ich habe schon bei vielen anderen Ärzten geläutet, niemand hat mir die Tür aufgemacht. Sie sind der erste.’ Mein Vater antwortete: ‚Nein, leider nein, ich kann es nicht.’ Nach diesem Vorfall, vielleicht hatte sich der Mann irgendwo beschwert, bekam mein Vater die Erlaubnis, in einem solchen Fall auch einem Nichtjuden Erste Hilfe zu leisten.“
Die Juden in Kutná Hora wurden immer stärker in die Enge getrieben. Sie bekamen besondere Lebensmittelkarten mit dem Aufdruck ‚J’ für ‚Jude’. Die Rationen und auch die Auswahl waren kleiner als für die übrige Bevölkerung. „Nur zwei Stunden täglich konnten wir in ganz bestimmten Geschäften einkaufen.“
Sie durften nicht ins Kino, nicht in den Park, nicht ins Restaurant. Die Benutzung der Eisenbahn und anderer Verkehrsmittel wurde ihnen verboten. „Mein Vater mußte sein Auto abgeben, und als Ersatz hat er ein Fahrrad bekommen.“ Schließlich durften sie die Stadt nicht mehr verlassen. Und sie mußten alles abgeben: Radio, Plattenspieler, Skier, warme Kleidung, selbst Hund und Katze......
Die Juden aus Kutná Hora wußten: „Auch wir kommen an die Reihe. Ab Ende 1941 haben wir nur über ein Thema gesprochen: Was soll man vorbereiten und was soll man mitnehmen?“
Einige Nichtjuden blieben Nachbarn und gute Freunde. Bei ihnen versteckten Julius Fantl und seine Frau Irena Möbel, Porzellan und Wertgegenstände – in der Hoffnung, sie eines Tages wieder zurückbekommen zu können.
Im Frühjahr 1942 kam der Befehl zur Registrierung der Juden in Kutná Hora. „Das mußten wir in der Nachbarstadt Kolín machen“. Die rund 15 Km dorthin durften sie noch mal mit dem Zug fahren, zurück nach Kutná Hora mußten alle, auch die Kranken und Gebrechlichen, zu Fuß gehen. Jetzt trafen alle Vorbereitungen für den Transport. Es war bekannt, daß es Konzentrationslager gab. “Aber die Menschen konnten nichts Konkretes damit verbinden.“ Man dachte: „Wir kommen jetzt nach Theresienstadt.“ Das war immerhin noch im eigenen Lande. „So schlimm, wie es dann kam, hat sich das keiner vorstellen können, glaube ich.“
Ende Mai kam die ‚Einberufung’ zum > Transport. Am 2. Juni mußten die Juden von Kutná Hora ‚weg’.
„Wir wußten schon von anderen Transporten, daß jede Person 50 Kg Gepäck mitnehmen darf“. Dagmar und Rita konnten je ein Buch mitnehmen. Das meiste mußte zu Hause zurückgelassen werden. „ Meine Mutter hatte uns die Unter- und Oberbekleidung doppelt angezogen.“ Denn das, was sie anhatten, wurde nicht gewogen. Aber es war ein sehr warmer Tag.
Mit dem Zug verließen die Fantls mit der Großmutter – der Großvater war inzwischen gestorben – Kuttenberg, wie die deutschen Besatzer Kutná Hora inzwischen nannten, in Richtung ‚Sammellager’ Kolín. Nach drei Tagen ging es weiter nach Theresienstadt in die ‚Kavalierskaserne’, wo einst ein Heeresmagazin gewesen war. Hier trafen sie auf den Bruder und die Schwägerin von Julius Fantl, die schon vorher aus der Nähe von Prag hierher verschleppt worden waren.
Männer und Frauen wurden getrennt: Mädchen und kleine Jungen blieben bei ihren Müttern. „Aber wir konnten uns mit meinem Vater treffen.“
Die Atmosphäre war sehr gespannt. Wenige Tage vor ihrer Ankunft war der SS-Gruppenführer und Stellvertretende Reichsprotektor Reinhard Heydrich den Folgen eines Attentates erlegen. Helgas Familie hatte Glück. Als der Transportzug in Bohusovice hielt, wurden sie zusammen mit etwa 50 anderen Personen ausgeladen. Während sie nach Theresienstadt marschierten, fuhr der Zug weiter. Er war für Riga bestimmt, wo alle Insassen sofort liquidiert wurden. Dagmar weiß bis heute nicht, warum sie diesem Schicksal entronnen ist.
Sie hat jedoch erfahren, daß es sich bei dem Transport nach Riga um einen Racheakt der Deutschen wegen des Attentats auf Heydrich gehandelt hat.
„Schon etwa eine Woche nach unserer Ankunft ging der erste Transport in den Osten.“
Julius Fantl wurde nach einigen Tagen in die ‚Sudetenkaserne’ verlegt, seine Frau Irena und die Mädchen in die ‚Hamburger Kaserne’. Diese Bezeichnungen für die Kasernen stammten nicht etwa aus der österreichischen Zeit, sondern von der deutschen Wehrmacht, die die Kasernen nach dem Einmarsch in die sogenannte Resttschechei im März 1939 genutzt hatte. Zur Zeit, als Dagmar mit ihrer Familie in Theresienstadt eintraf, war die alte Festungsstadt noch von der ursprünglichen Bevölkerung bewohnt. Die Häftlinge wurden nur in Kasernen untergebracht, die sie nicht verlassen durften. Das sollte sich ab Sommer 1942 ändern. Die gesamte Zivilbevölkerung wurde ausgesiedelt, ganz Theresienstadt zu einem großen Konzentrationslager.
Mit der Errichtung des Lagers verbanden die Nazis zwei Erwägungen. Zum einen wollten sie ein zentrales Lager für die Juden des ‚Protektorats Böhmen und Mähren’ errichten. Zum anderen sollte Theresienstadt für ‚prominente’ Juden und andere ‚Sonderkategorien’ Verwendung finden.
Schließlich wollten die Nazis ihre Legende von der ‚Umsiedlung’ der Juden aufrechterhalten. Sie sprachen dann von der ‚Judensiedlung’, vom ‚jüdischen Siedlungsgebiet’ oder dem ‚Altersghetto’. Vor allem die Internationale Öffentlichkeit sollte getäuscht werden. Immer wieder hieß es, wenn nach prominenten jüdischen Persönlichkeiten gefragt wurde, sie befänden sich bei bester Gesundheit in Theresienstadt. Auch manches der Opfer meinte, es befände sich in Theresienstadt während des Krieges in Sicherheit.
In der ‚Hamburger Kaserne’ kamen Irena Fantlová und ihre beiden Töchter in einen Raum. In ihm war kein Platz für die typischen Doppelbetten: Sie schliefen auf dem Fußboden. “Wir waren ungefähr 20 Personen, darunter noch zwei Frauen mit Töchtern.“ Die fünf Mädchen freundeten sich an. Da sie die Kaserne nicht verlassen durften, spielten sie auf den Gängen und auf dem kleinen Hof.
Im Erdgeschoß der Kaserne befand sich eines der ‚Kinderheime’. „Ich wollte dort nicht wohnen, im Gegensatz zu meiner Schwester, die schon bald ins Kinderheim zog.“
Dagmar nahm an ‚Programmen’ teil. „Wir lernten alles Mögliche, zeichneten und lasen Verschiedenes.“ Irena Fantlová arbeitete zuletzt als Putzfrau im ‚Kinderheim’ ihrer zehnjährigen Tochter Rita. Sie wollte wissen, „ob alles klappt, ob sie sich wäscht und ob sie sich kämmt“. Später half sie in einer der Küchen beim Austeilen von Essen. „Es war ziemlich vorteilhaft für sie, weil meine Mutter öfters eine Extraportion bekam. Die Großmutter hat in der Küche Kartoffeln geschält.“ Und Julius Fantl half als Arzt, so gut es unter den herrschenden Bedingungen ging, den Kranken von Theresienstadt.
Im Herbst bekam Dagmars Großmutter einen Zettel. Sie habe sich zu einem Transport einzufinden. Das waren lauter alte Leute, die in den Osten gebracht wurden – von ihrer Großmutter hat Dagmar nie wieder etwas gehört.
Dagmar kam in das Mädchenheim im Haus L 410. Tagsüber arbeitete sie in der Gärtnerei des Lagers. „Mein Vater war sehr froh darüber, weil ich an der frischen Luft war. Ab und zu haben wir Gras gegessen, was verboten war.“
Streng verboten war auch der Unterricht nach der Arbeit. In allen Gebäuden, in denen Kinder und Jugendliche lebten, gab es einen Leiter. Und die einzelnen Räume, die Heime genannt wurden, hatten ihren Erzieher, ihre Erzieherin, einen Häftling, verantwortlich für 20 bis 30 Kinder und Jugendliche. Sie organisierten den Unterricht.
„Gut kann ich mich an unsere Betreuerin Magda erinnern. Oft hat sie uns Inhalte von Filmen erzählt. Damals habe ich zum erstenmal von dem sowjetischen Film ‚Zirkus’ gehört. Sehr genau hat sie uns die einzelnen Szenen des Films beschrieben. Das habe ich bis heute nicht vergessen.“
Die Mädchen in Dagmars Zimmer lernten sich kennen. „Jede von uns kam aus einer anderen Stadt.“ Sie erzählten sich von ihrem Zuhause, sprachen über ihre Wünsche und Pläne für die Zukunft, über „alle möglichen Probleme, Freundschaft und Liebe, so, wie sich Freundinnen untereinander unterhalten.“
Es gab Mädchen, die keine Eltern mehr hatten und aus dem Waisenhaus in Brno (Brünn) gekommen waren. Ihre Eltern waren nach Palästina gegangen, in der Hoffnung, ihre Kinder nachkommen lassen zu können. „Irgendwie war das nicht geglückt. Die meisten dieser Mädchen sind später ums Leben gekommen.“
Dagmars beste Freundin wurde Dascha, die sie auf dem Hof der ´Hamburger Kaserne´ kennengelernt hatte. „Das Interessante war, daß wir beide denselben Namen hatten, also Dagmar, aber sie wurde Dascha gerufen und ich Danka.“ Sie tauschten oft irgendwelche Sachen, selbst Kleidungsstücke.
Ständig wurden Mitbewohnerinnen Dagmars abtransportiert. „Jede hat das erwartet und gewußt, daß sie einmal an die Reihe kommt.“
Mitte Dezember 1943 war es für die Familie Fantl soweit. Dascha blieb in Theresienstadt zurück. „Wir haben uns für immer, so meinten wir damals, verabschiedet. Sie kam jedoch wenig später mit einem anderen Transport nach Auschwitz-Birkenau.“
„Es war Winter. Wir haben wieder alles doppelt angezogen. Als Gepäck hatte jeder etwa 20 Kg mit, auch etwas zum Essen und Wasser. Die Viehwaggons waren abgeschlossen. In der Ecke stand ein Eimer, in dem wir unsere Notdurft verrichten mußten. Aus den kleinen Öffnungen des Waggons durften wir nicht hinaussehen, aber heimlich machten wir es doch.“
Am 16. Dezember 1943 traf der Transport in Auschwitz ein. „Jemand hatte hinaus geschaut und sagte: Wir sind in Auschwitz.“ Diesen Namen hatte ich schon einmal gehört, wußte aber nicht, was sich dahinter verbarg. Ein schreckliches Gefühl kroch in mir hoch. Dann sagte jemand: "Wir werden hier aussteigen und nach Birkenau kommen."„ Meiner Familie war nicht klar, daß Auschwitz und Birkenau das Gleiche ist.“
Zu Fuß mußten sie vom Bahnhof in Auschwitz nach Birkenau gehen. Es war dunkel. Sie kamen in große Holzbaracken, in diese ‚Pferdeställe’, in das sogenannte ‚Familienlager Theresienstadt’.
„Verschiedene Leute aus dem vorherigen Transport kamen zu uns. Eine Frau wollte, daß ich ihr meinen Pullover gebe. Ich weiß nicht mehr, ob es eine Bekannte meiner Mutter war, aber wir gaben ihr verschiedene Sachen.“
Sie mußten in einen anderen Block zum Tätowieren gehen. Als sie da in einer langen Schlange warteten, kam eine Bekannte zu Dagmars Mutter und meinte: „ Wissen Sie schon, daß Frau Reitmannová Witwe ist?“ Irena Fantlová erschrak. „Es war von ihrem Bruder die Rede, aber das hatte die Frau nicht gewußt.“ Er war bereits im September 1943 mit einem Transport von Theresienstadt nach Birkenau verschleppt worden.
Dagmar bekam die Lagernummer 70788 eintätowiert. Als sie aus der Baracke kamen, sagte jemand zu ihnen: „Wer schon eine Nummer hat, der bleibt im Lager.“ Sie wußten damals nicht, was das bedeutet.
Danach mußten sie in die Sauna. Eine Frau sagte: "Hoffentlich kommt ihr wieder zurück." Das war ebenso unverständlich für die Neuankömmlinge. In der ‚Sauna’ dauerte es lange. Dagmar hatte Durst. „Ich trank aus einem Wasserhahn. Und dann sah ich die Aufschrift: ‚Trinken verboten – Seuchengefahr’.“
Sie mußten alles ausziehen. Stattdessen bekamen sie neue ‚Kleider’, die eher Lumpen glichen. Nur gut, daß sie der Frau im ´Familienlager´ einige der Kleidungsstücke gegeben hatten. Als sie nämlich wieder dort waren, gab sie ihnen alles zurück.
Dagmar und Rita wurden zunächst mit ihrer Mutter in einem Block untergebracht. In der Baracke standen dreistöckige Pritschen, auf denen sie schlafen mußten. „Meine Mutter, meine Schwester und ich schliefen zusammen mit drei weiteren Frauen auf einer Ebene. Insgesamt waren wir also sechs Personen aber nur drei Strohsäcke.“
Das ´Familienlager' bestand aus drei Reihen von Baracken. „Männer und Frauen durften nicht zusammenleben.“ Mit ihrem Vater konnte sich Dagmar auf der Lagerstraße, die sich zwischen den Barackenreihen durch das ‚Familienlager’ zog, treffen.
Tagsüber konnten sie „nichts machen“. „Wir haben Appell gestanden und dann wurde das Essen ausgeteilt.“ Dagmars Mutter meldete sich bald zum Austragen der Toilettenkübel. Wer das machte, bekam etwas mehr Suppe. „Ich habe ihr mehrmals am Tag geholfen. Das war sehr unangenehm. Aber ich habe es getan.“
Zur Aufrechterhaltung der Legende, sie würden die Juden ´umsiedeln', gestatteten die Nazis den Menschen im > ‚Familienlager Theresienstadt’ einige Postkarten zu schreiben und Pakete zu bekommen. Als Absenderangabe war vorgeschrieben: Arbeitslager Birkenau bei Neuberun’. Der Name Auschwitz sollte nicht vorkommen, auch nicht im Poststempel. Die Karten wurden in Berlin-Charlottenburg abgestempelt.
Dagmar schrieb am 8. Januar 1944 an Fany Holicka, das ehemalige Dienstmädchen ihrer Großeltern: „Wir denken mit Sehnsucht an alle. Was macht Tante Janu-Stryphal und Cukrs? Sie sollen oft schreiben, auch Du, liebe Fanynka. Wir erwarten alle Nachrichten mit Sehnsucht. Ich wohne mit Mutti und Rita zusammen. Auch mit Vater sind wir täglich (zusammen). Mit Sehnsucht erwarten wir von Janu und Euch allen Nachricht. Recht viele Küsse“
Noch einige Wochen verbrachten Dagmar und ihre Schwester Rita tagsüber in einem der ‚Kinderblocks’, die es im ‚Familienlager’ gab. „Dort wurde gelernt, erzählt und gesungen.“ Dagmar war inzwischen in eine andere Baracke verlegt worden, wo meist Mädchen und jüngere Frauen untergebracht waren.
„Morgens sind wir sehr früh aufgestanden. Wir bekamen irgendwelche Flüssigkeit zum Trinken. Uns war klar, daß wir uns gut waschen mußten. Solange wir uns jeden Tag wuschen und einigermaßen aussahen, ging alles noch. Mit der Bekleidung war das schwierig. Wir hatten ja nur eine Garnitur.“
Im Kinderblock hat Dagmar auch Fredy Hirsch getroffen und bei ihm als Hilfsbetreuerin gearbeitet.
In der Nacht vom 8. auf den 9. März wurden vom „September-Transport“ aus Theresienstadt 3.791 jüdische Häftlinge – Männer, Frauen und Kinder – in den Krematorien II und III ermordet.
„Bis zu diesem Zeitpunkt hatte jeder von uns gehofft, daß wir es irgendwie aushalten. Manche sagten, wenn du eine Nummer hast, dann bleibst du hier und wirst nicht umgebracht. Andere meinten, wir würden trotzdem sterben. Viele Meinungen waren zu hören.“ Nach dem 9. März änderte sich das schlagartig.
Nun war jedem klar, selbst den Kindern, daß Birkenau ein Vernichtungslager war, aus dem es kein Entrinnen gab. Mädchen und Jungen aus dem Kinderblock waren vergast worden: „Wir waren nun weniger Kinder und Betreuer.“ Die Älteren, Dagmar war ja knapp 15 Jahre alt, wurden zu Hilfsbetreuerinnen gemacht: „Wir haben bei der Erziehung der kleinen Kinder geholfen.“
Dagmars Mutter, die zuerst beim Klodienst geholfen hatten, dann beim Austragen des Essens, war es Ende März 1944 gelungen, in eine sogenannte Schneiderstube zu kommen. „Sie konnte für mich und meine kleine Schwester Kleidungsstücke austauschen. Meine Mutter nahm ein altes Stück mit und brachte ein besseres wieder zurück und gab es uns.“
Julius Fantl mußte als Läusearzt arbeiten. „Er ist durch die Blöcke gegangen und hat die Menschen mehrmals am Tag auf Läusebefall hin untersucht.“
Das verschaffte ihm die Möglichkeit, seine Familie ausserhalb der Lagerstraße zu treffen und mit ihr zu sprechen.
Am 15. April 1944 mußten die Fantls wieder Postkarten schreiben. Die drei erhaltenen Karten wurden alle am 23. Juni 1944 in Berlin-Charlottenburg abgestempelt. Irena Fantlová und ihre Tochter Rita sandten fast identische Zeilen an Fany Holicka: „Wir sind alle gesund und denken täglich an Dich. Vergiß uns nicht und sei innigst gegrüßt und geküßt.“
Mitte Mai 1944 trafen weitere Transporte mit 7.500 Juden aus Theresienstadt in Birkenau ein. Sobald die Menschen im ‚Familienlager’ waren, bekamen sie Hilfe durch die sich bereits dort befindenden Männer und Frauen, aber auch durch die Kinder. „Wir hatten einen Dienst für die alten Menschen eingerichtet. Wir trugen ihr Gepäck und führten sie in die Baracken.“
Anfang Juli 1944 ordnete die Lagerleitung eine Selektion im ‚Familienlager’ an. „Ich glaube, es gab den Befehl, daß Frauen von 16 bis 40 und Männer von 16 bis 50 Jahren irgendwohin zur Arbeit fahren sollten. Es wurden die Nummern der Leute aufgerufen, die zu dieser Selektion gehen mußten. Meine Mutter war über 40, mein Vater über 50, meine Schwester war 12 und ich gerade 15 Jahre alt geworden.“ Von den Fantls war also niemand in der Selektionsgruppe. Doch die ‚Blockälteste’ kam und las Dagmars Nummer vor.
Dagmar ging zu ihr hin und sagte: „Ich bin Jahrgang 29.“
„Nein, hier steht, Du bist Jahrgang 25. Also mußt Du hin.“
Dagmar wußte nicht, ob das nun gut oder schlecht ist. Sie ging zu ihrem Vater und der wiederum zum Lagerschreiber. Aber der jagte ihn wieder weg. „Es kommen verschiedene und wollen, daß ich was ändere. Die einen soll ich jünger oder die anderen älter machen, daß sie in diese oder jene Gruppe kommen.“
Dagmar mußte zur Selektion. „Ich war fast so groß wie heute, sah noch ganz gut aus und war noch nicht so ausgehungert. SS-Arzt Mengele führte die Selektion durch. Er bestimmte mich für die Arbeit.“
Dagmars Eltern waren unglücklich. Sie hatten Angst, daß sie ihre Tochter nie wiedersehen würden. „Vielleicht hätte sich meine Mutter noch freiwillig melden können. Denn die Menschen, die etwas jünger als 16 oder etwas älter als 40 Jahre waren, konnten sich anschließend noch freiwillig zur Selektion melden.“
Irena Fantlová war damals 42 Jahre alt. Sie meldete sich nicht, sondern sagte zu Dagmar: „Du bist schon groß. Du kannst Dich selbst um Dich kümmern. Aber ich kann Rita hier nicht alleine lassen.“ Nie wieder hat Dagmar etwas von ihren Eltern oder von ihrer Schwester gehört.
Dascha, ihre beste Freundin, meldete sich freiwillig zur Selektion. Sie war 15 Jahre alt. Ihr Vater und ihre Schwester waren schon in Theresienstadt gestorben. „Zusammen mit ihrer Mutter ist sie nach Birkenau gekommen. Ihre Mutter war 38 Jahre alt, mußte also zur Selektion. Dascha hatte sich freiwillig gemeldet, weil sie dachte, ihre Mutter würde wegfahren. Aber die sah sehr, sehr schlecht aus. Und sie wurde ausselektiert und Dascha für die Arbeit bestimmt.“
Dagmar und Dascha blieben zusammen und wurden zunächst in das Frauenlager verlegt.
„Anfang Juli 1944 haben sie uns ‚aufgeladen’“. Bei der Abfahrt dachte Dagmar an ihre Familie. “Ich habe nur gehofft, daß sie unsere Abfahrt erleben, daß sie irgendwie davon gewußt haben“. Dagmar Lieblová würde heute viel darum geben, wenn sie sich darüber Gewißheit verschaffen könnte.
„Andererseits waren wir, war ich, glücklich, daß wir aus Auschwitz-Birkenau weg sind. Das war ein unbeschreibliches Gefühl. Ich hatte das nicht erwartet.“ Dagmar hat sich im ‚Familienlager’ immer wieder gesagt: „Du wirst nie wieder einen Baum sehen. Du wirst nie wieder mit einem Zug fahren.....“
Der Transport wurde nicht von der SS, sondern von der Wehrmacht bewacht.
Am 6. Juli 1944 – „dieses Datum weiß ich noch ganz genau" - erreichte er sein Ziel: Hamburg. Die Mädchen und Frauen wurden in einem der Speicherhäuser im Freihafen untergebracht. „Das war ein großer Saal. Wir schliefen in Doppelstockbetten. In einem anderen Teil des Saales war der Speiseraum mit Tischen und Bänken. Waschgelegenheiten und eine Toilette waren auch vorhanden.“ Sie bekamen sogar eine Schüssel, einen Löffel, Wäsche und eine Decke. Die Wohnbedingungen waren „unvergleichbar“ mit denen in Birkenau.
Mit ihnen im Saal waren Frauen aus Ungarn, die über Auschwitz nach Hamburg gekommen waren. In einem anderen Stockwerk befanden sich russische Kriegsgefangene.
Zum Frühstück bekamen sie Ersatzkaffee, „aber dann haben wir ein richtiges Mittagessen bekommen: Kartoffeln und Salzheringe.“ Das hatten sie lange nicht mehr bekommen. „Wir waren sehr erstaunt.“ Aber so ein Essen bekamen sie nur am ersten Tag. In der Folgezeit bestand es nur aus einer dünnen Suppe und Brot.
Auch am Samstag mussten die Mädchen und Frauen arbeiten. Sie mussten Schutt von bombardierten Häusern wegräumen. Am Sonntag hatten sie frei. Dagmar wusste nicht, wie sie diese schwere Arbeit eine Woche lang aushalten sollte. Fast jede Nacht gab es Bombenalarm. Sie wurden aus dem Schlaf gerissen, mussten in den Keller des Speichergebäudes an der Dessauer Straße, das es heute noch gibt.
Vom Dessauer Ufer fuhren sie mit einer Barkasse zur Arbeit. „Nach Moorburg, Wilhelmsburg... Da haben wir in verschiedenen Fabriken gearbeitet.“
Im September 1944 verließen sie die Dessauer Straße. „Wir kamen nach Neugraben. Das war ein Lager im Wald mit einigen Baracken.“ Zur Arbeit ging es nach Harburg. „Wir haben die Ziegelsteine aus dem Hafen rausgeholt. Häuser für Ausgebombte sollten in Neugraben gebaut werden, Gräben für Wasserleitungen im Wald ausgehoben, im Winter Schnee in der Stadt geräumt werden.“
„In der Nähe des Waldes, in dem wir arbeiteten, stand ein Haus. Dort hat eine Frau mit ihrem etwa 12 Jahre alten Sohn gewohnt. Der hat sich bis zu uns gewagt. Die Wachtmeister, es waren Zollbeamte, waren sehr tolerant. Der Junge, Wolfgang hieß er, kam eines Tages mit einer großen Tüte voll mit Kohl, Rüben und ein paar andere Sachen für uns. Wir sollten das als Weihnachtsgeschenk bekommen. Und einmal hat seine Mutter einen der Wachtmeister gebeten, wir sollten die Heide, die wir abgeschnitten hatten, zu ihr in den Garten bringen. Das haben wir gemacht. Die Frau hat uns ins Haus eingeladen. Das war etwas ganz Ausserordentliches. Wir haben Ersatzkaffee und ein Stück Brot mit Käse bekommen. Es war das erste Mal seit Jahren, daß wir in einem normalen Haus waren. Auch das werde ich nie vergessen.“
Im Februar 1945 kam Dagmar in ein anderes Lager. Ob es in oder in der Nähe Hamburgs war, weiß sie nicht mehr. Sie war nur kurz dort. Sie mußte mit anderen Mädchen und Frauen Ziegelsteine aus zerbombten Häusern herausholen und stapeln.
Als sie eines Tages von der Arbeit zurückkamen, fanden sie ihr Lager ausgebombt vor. Einige Frauen waren tot, andere lagen verwundet im Krankenrevier. Ende März 1945 hieß es wieder: Abtransport per Zug. Diesmal ging es nach Celle. Und unterwegs „sind einige von uns geflohen“.
Von Celle aus musste Dagmar mit ihren Mithäftlingen den ganzen Weg nach Bergen-Belsen marschieren..
„Die Zustände in Bergen-Belsen waren unvorstellbar. Dort konnte man es nur einige Tage aushalten. Es gab kein Wasser, kaum Essen. Es herrschten verheerende hygienische Bedingungen. Die Baracken waren übervoll mit Menschen. Wir haben dicht beieinander gesessen, zum Liegen reichte der Platz nicht. Und dann die Läuse, und draußen die Leichenberge....“ In Bergen-Belsen traf Dagmar eine „alte Bekannte“ wieder: Lydia Holznerová, eine Mitbewohnerin ihres alten Zimmers in Theresienstadt. Gemeinsam waren sie auch im ´Kinderblock´ von Auschwitz-Birkenau gewesen.
Am 15. April 1945 kam endlich „die Endlösung“. Die Engländer befreiten Bergen-Belsen.
Dagmar war so erschöpft und krank, daß sie sich noch gar nicht richtig freuen konnte. „Aber trotzdem waren wir überaus glücklich, daß wir es überstanden hatten.“
Die englischen Soldaten verteilten Lebensmittel. Und viele der ausgehungerten Häftlinge aßen mit großer Hast und ungeheure Mengen, aber „das war ein Fehler“. Sie überlebten nicht. Dagmar und ihre Freundin Dascha waren vorsichtiger. Sie schlugen sich den Magen nicht voll mit Fleisch.
Sie wurden desinfiziert und in den ehemaligen SS-Unterkünften untergebracht. Dagmar erkrankte an Fleckfieber, wurde noch im April in ein Krankenhaus eingewiesen, wo sie ihren 16. Geburtstag verbrachte. Während Dascha schon Ende Mai/Anfang Juni per Lastwagen mit anderen ehemaligen Häftlingen nach Prag gebracht wurde, brauchte Dagmar bis Ende Juni, um halbwegs wieder auf die Beine zu kommen. Sie fuhr mit dem ersten Zug von Bergen-Belsen in die Tschechoslowakei. „Wenn ich mich nicht irre, war das am 8. Juli 1945.“
Unmittelbar nach der Befreiung hatte Dagmar an Franziska Holicka in Kutná Hora geschrieben. Sie bekam Antwort von Professor František Malý, bei dem das alte Dienstmädchen der Großeltern seit Ende 1942 zur Untermiete wohnte. Er bot ihr an, in seinem Haus zu wohnen, bis ihre Eltern wiederkommen würden.
František Malý holte Dagmar aus Prag ab. Mit einem geliehenen Auto fuhren sie nach Kutná Hora. „Ich habe sofort gebadet und dann gegessen. Alle hatten Angst, daß ich zuviel esse. Aber es war schon drei Monate nach der Befreiung. Ich hatte mich wieder an das Essen gewöhnt. Ich war immer hungrig und wurde nie satt. Dieses Gefühl des Nichtsattwerdenkönnens hielt noch die nächsten beiden Monate an....“
Dagmar befand sich in einem sehr schlechten Gesundheitszustand. Anfang Januar wurde sie in ein Sanatorium in Ostböhmen gebracht. „Nur deswegen, wie ich später erfuhr, weil die Tochter eines Arztes einen Platz zum Sterben haben sollte. Es war irgendwie ernst mit mir.“
Dagmar erzählt, daß sie am Krankenbett in Kutná Hora von Josef Bor besucht wurde, der Theresienstadt, Auschwitz und die Bunawerke überlebt hatte und nun zurückgekehrt war. Es wäre ein ganz anderer Mensch gewesen als der, der sie in Theresienstadt in den Waggon bugsiert und dann die Türen geschlossen hätte.
Zweieinhalb Jahre mußte sie in dem Sanatorium verbringen. Ihre Eltern und ihre Schwester waren nicht zurückgekehrt. František Malý wurde ihr Vormund.
Im Februar 1948 konnte Dagmar wieder nach Kutná Hora. Sie mußte sich noch schonen, viel liegen, sich langsam an das ´normale Leben´ gewöhnen. Dagmar fing wieder an, Klavier zu spielen, wollte ihre Englisch-Kenntnisse verbessern, wieder zur Schule gehen. „Ich hatte ja nur fünf Klassen machen können. Wenigstens die Quarta des Gymnasiums wollte ich absolviert haben.“
Mit zwanzig hatte sie es geschafft und zwei Jahre später sogar das Abitur. Sie begann ein fünfjähriges Germanistik- und Tschechischstudium an der Universität in Prag. Fast jedes Wochenende fuhr sie zu Tante Fany nach Hause. In den Semesterferien mußte sie arbeiten, um Geld zu verdienen. Die kleine Rente, die sie erhielt, später ein Stipendium, reichten nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Im Oktober 1955 heiratete sie und heißt seitdem Lieblová. Im Februar 1956 kam ihre erste Tochter zur Welt. „Sie heißt Rita, nach meiner Schwester.“ Im Herbst desselben Jahres beendete sie ihr Studium, nahm eine Stelle als Lehrerin an einer Mittelschule an, während ihr Mann sein Mathematikstudium abschloß.
Im Mai 1959 wurde Dagmar Lieblová ein zweites Mal Mutter einer Tochter: Zuzana. Gut ein Jahr später erhielt sie eine Stelle an einer Prager Sprachenschule. Ihr Mann bekam die Möglichkeit, für zwölf Monate in der Sowjetunion in einem Rechenzentrum zu arbeiten. „Wir sind mit den Kindern, die damals viereinhalb und dreieinhalb Jahre alt waren, dorthin gefahren.“
1961 wieder in Prag, zogen sie in eine Genossenschaftswohnung ein, die sie sich gekauft hatten, blieben bis 1965, um für drei Jahre nach Ghana zu gehen.
Dagmar unterrichtete am ´Institut für Languages´ Deutsch und zeitweise Russisch, ihr Mann arbeitete an der Universität. Kurz danach wurde im September 1968 Martin geboren, Dagmar Lieblovás drittes Kind. „Und seit dieser Zeit leben wir in Prag.“
Seit mehreren Jahren ist sie jetzt Professorin für Germanistik an der Karls-Universität in Prag. Sie unterrichtet Studenten, die Dolmetscher oder Übersetzer werden wollen.
Dagmar Lieblovás Töchter haben ihr Studium beendet. Rita ist Psychologin, hat 1987 einen Kanadier geheiratet, lebt nun in Nordamerika. Zuzana ist Ärztin und hat einen kleinen Sohn. Martin studierte Mathematik in Prag.
Natürlich wissen ihre Kinder, daß sie im Konzentrationslager war. „Das ist Bestandteil meines Lebens.“ Aber sie haben sich unterschiedlich dafür interessiert: „Die älteste Tochter ließ sich einiges erzählen. Die zweite Tochter wollte mehr über die Familiengeschichte erfahren. Aber das hängt ja alles eng zusammen. Es ist kaum jemand geblieben, nur eine Cousine. Und in der Familie meines Mannes war nach dem Krieg nur noch die Hälfte da. Er stammt aus einer sogenannten Mischehe. Die Verwandten meiner Schwiegermutter sind alle weg.“ Am wenigsten wisse wohl Martin.
„Ich erzähle nicht viel über diese Zeit“, meinte Dagmar Lieblová. „Manchmal denke ich, daß ich vielleicht mehr erzählen sollte, damit die Kinder mehr darüber wissen.“
Sie berichtet von einer Freundin, die mit ihr in Auschwitz war, aus der Tschechoslowakei stammt und nach dem Krieg von einer sowjetischen Familie adoptiert wurde und seit einiger Zeit dort lebt. Sie habe ihren Kindern nie etwas von ihrer Familie in der Tschechoslowakei gesagt, wollte darüber nicht reden.
Alle zwei Jahre kommt ihre Freundin Dascha mit ihrem Mann aus den USA nach Prag. Vor einigen Jahren war Dagmar bei ihr in den USA. „Als ich bei ihr zu Besuch war, haben wir einen Ausflug mit einer Reisegesellschaft gemacht. Die Reiseleiterin hat immer gesagt: ‚Ach, ihre Schwester wartet schon.’ Wir haben nichts Derartiges gesagt, aber sie war der Meinung, daß wir Schwestern sind.“
Dagmar Lieblová zieht es immer wieder ins Ausland. Anfang der achtziger Jahre hat sie anderthalb Jahre als Lektorin für Tschechisch in Uppsala gearbeitet. Sie ist in die Bundesrepublik gereist, hat Hamburg besucht, die Dessauer Straße.... Sie ist oft in der DDR gewesen.
Als sie darüber berichtet, fällt ihr eine Begebenheit ein, die sich im Sommer 1972 in der Bahnhofsgaststätte in Erfurt zugetragen hat. Sie saß dort spät abends mit einem bundesdeutschen Bekannten. „Auch ein Jude“. Gegen Mitternacht kamen Polizisten. Dagmar Lieblová, völlig im Gespräch vertieft, hatte vergessen, wo sie sich befand, als sie plötzlich die Aufforderung hörte: „Die Ausweise bitte!“
„Ich bin so tief erschrocken.“ Sie habe angefangen zu zittern. Die deutsche Sprache in „dieser Form“ zu hören, daran war sie nicht mehr gewöhnt. Rückblickend meint sie: „Da muss etwas im Menschen sein, in mir sein, ganz tief unten, das auf einmal hervorkommt, wenn man an das Vergangene erinnert wird.“
Es drängt sich die Frage auf, warum Dagmar gerade Professorin für Germanistik geworden ist.
„Nach dem Krieg habe ich natürlich nicht die deutsche Sprache gesprochen. Ich habe sie damals auch nicht so gut gekonnt. Aber schon der Beginn des Studiums 1951 hat mir gut gefallen. Wir hatten sehr gute Dozenten und Professoren. Mir hat das Studium Spaß gemacht. Auch war es interessant, zu beobachten, wie es in Deutschland weiter geht. Und natürlich kann ich nicht alles auseinanderhalten. Ja, damals in Auschwitz und Hamburg wurde deutsch gesprochen. Aber die deutsche Sprache kann doch nichts dafür.“
Dagmar ist heute (2004) 75 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann Peter in Prag. Wir haben seit Jahren einen guten Kontakt zu ihr. Sie führt immer wieder Jugendliche durch das Ghetto Theresienstadt und jede Begegnung mit ihr wird zum großen Erlebnis. Sie ist Vorsitzende der Theresienstädter Initiative und Ehrenmitglied des Niedersächsischen Vereins zur Förderung von Theresienstadt e.V..