Salmen Gradowski - Der Bericht

Am 8. März 1944 wurden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau die gefangenen Bewohner des „Theresienstädter Familienlagers“ ermordet. Salmen Gradowski war Angehöriger des Sonderkommandos und erlebte diesen Massenmord hautnah. Sein Bericht war Inhalt einer Flasche, die später in der Asche bei den zerstörten Krematorien gefunden wurde.

Lieber Leser, diese Worte schreibe ich in der Zeit meiner größten Verzweiflung. Ich weiß nicht, und glaube auch nicht, daß ich die hier geschriebenen Zeilen irgendwann nach dem „Sturm" noch lesen werde. Wer weiß, ob ich das Glück haben werde, das tiefe Geheimnis, das ich in meinem Herzen trage, irgendwann vor der Welt enthüllen zu können. Wer weiß, ob ich einmal noch einen „freien" Menschen sehen werde und mit ihm sprechen kann? Es kann sein, daß genau diese Zeilen, die ich schreibe, das einzige Zeugnis meines Lebens sein werden. Ich wäre aber glücklich, wenn meine Schriften zu Dir gelangten, Du freier Bürger der Welt. Vielleicht wird sich ein Funke aus meinem innerlichen Feuer in Dir entzünden, und Du wirst mindestens einen Teil unseres Willens erfüllen: Du wirst uns rächen, rächen an den Mördern!

Lieber Finder der Schriften!

Ich habe eine Bitte an Dich, es ist eigentlich das wesentliche Ziel meines Schreibens, daß mein zum Tode verurteiltes Leben einen Inhalt bekommen soll. Meine höllischen Tage, mein aussichtsloser Morgen sollen ein Ziel in der Zukunft haben.

Ich übergebe Dir nur einen Teil, ein Minimum von dem, was sich in der Hölle Auschwitz-Birkenau abgespielt hat. Du wirst Dir schon vorstellen, wie die Wirklichkeit ausgesehen hat. Ich habe außer diesem noch vieles andere geschrieben. Ich glaube, daß Du die Spuren dazu sicher findest und von dem Ganzen ein Bild schaffst, wie die Kinder unseres Volkes ums Leben gekommen sind.

[...]

All das, was ich hier alleine geschrieben habe, habe ich allein während meiner sechzehnmonatigen „Sonderarbeit" erlebt, und meinen angehäuften Schmerz, meinen ungeheuren Kummer, mein schreckliches Leid konnte ich wegen der „Bedingungen" nicht „anders" ausdrücken als leider nur durch Schreiben.

S.G.

Die Nacht

So sah die Nacht aus, die entsetzliche, brutale Nacht von Purim in 1944, in welcher die Mörder der Welt für die jungen und frischen Leben ein Massaker vorbereiteten. Die Zahl der Opfer erreichte fünftausend. Sie brachten die tschechischen Juden ihrem Gott zum Opfer dar.

Sie haben sich genug darauf vorbereitet, sie haben alle Vorbereitungen auf das große Massaker schon einen Tag vorher getroffen. Es schien, als ob auch der Mond mitsamt den Sternen und dem Himmel Freundschaft mit dem Teufel geschlossen hätte. Sie haben sich heute herausgeputzt, als ob der Feiertag „ideal", imposant und reich sein sollte.

Sie haben unser Purim in das „Tischa-be-aw" verwandelt!

Die Stimmung im Lager

Es herrscht im Lager unter den Juden eine schwermütige, traurige Stimmung. Alle gehen bedrückt und bedrängt umher. Es lebt alles in beklommener Erwartung.

Man sagte „uns" schon gestern, daß „sie" vielleicht zu uns kämen und die Öfen wurden unaufhörlich drei Tage geheizt, damit sie ihre neuen Gäste empfangen könnten. Von Tag zu Tag wurde mehr klar, daß dies ein Symbol, ein Beweis dafür ist, daß man nichts mehr dagegen tun kann. Wer weiß, welche Folgen damit verbunden sind. Es wird sein wie Sprengstoff, wie Dynamit, wie Feuer im Schießpulverfaß, der so lange auf die Explosion wartet. Alle hatten ihre Hoffnung darauf gesetzt, so überlegten wir es uns. Die tschechischen Juden sind doch aus dem Lager. Sie leben doch schon sieben Monate in dieser verlorenen und unglücklichsten Ecke der ganzen Welt und wissen alles, verstehen alles. Sie sehen doch jeden Tag den großen schwarzen Feuerrauch, der aus der tiefen Hölle zum hohen Himmel ausreißt, jeden Tag mit neuen Opfern.

[...]

Aber die tschechischen Juden glaubten, hofften, daß sie dem Schicksal unseres Volkes nicht begegnen würden. [...] Es ist aber wahr, daß es zum ersten Mal der Fall war, daß ein jüdischer Transport, ganze Familien, [bei der Ankunft in Birkenau] nicht ins Feuer gehen, sondern gemeinsam in ein Lager übergehen sollte. Das war ein Trost für sie, ein Zeichen, daß die „Macht" sie aus dem allgemeinen „Judengesetz" herausgenommen habe. Sie erwarteten also nicht dasselbe Ende, das die Juden aus der ganzen Welt traf. Sie erwarteten nicht, daß auch sie Opfer ihres Gottes sein könnten. Und so wußten sie, die unglücklichen, naiven Opfer, überhaupt nichts, sie verstanden nichts, sie drangen überhaupt nicht in die dunklen bösen Gedanken der gemeinsten Sadisten und Verbrecher ein. Sie begriffen nicht, daß das jetzt geschenkte Leben ihnen nur wegen eines gewissen Zieles, zu einem bestimmten Teufelszweck gegeben wurde. Diese barbarische Täuschung verschlang sie in so einem Maße, daß sie meinten, sie würden noch leben. Als aber der Zweck der Täuschung erreicht war, wurde ihr Leben nutzlos und sie waren jetzt so dran wie alle Juden, bestimmt zum Tode.

Die Nachricht darüber, daß sie aus dem Lager „fortgeschickt" würden, kam so unerwartet, so plötzlich. Ihre Herzen erschraken, es beherrschte sie ein schlechtes Gefühl, die Intuition sagte ihnen voraus, daß sich etwas Schlimmes vorbereitete, sie konnten es aber nicht glauben. Es wurde ihnen erst am letzten Tage ihres Lebens bewußt, daß man sie nicht zur Arbeit in ein anderes Lager führen würde, sondern daß man den Tod schon vorbereitet hatte für sie, daß sie also in den Tod geschickt würden.

Es herrscht eine Spannung im Lager, obwohl es nicht der erste Fall ist, in dem etwas mit Tausenden auf einmal geschieht. Die Leute aus dem Lager wußten ganz genau, daß man die Transporte geradewegs in den Tod führte. Heute ist es aber ein Sonderfall, weil die heutigen Opfer in ganzen Familien hierher gekommen sind und geglaubt haben, daß sie leben würden, und gehofft haben, daß sie befreit sein würden, weil sie hier doch schon sieben Monate gelebt haben. [...] Alle fühlen mit den tausenden frischen Leben mit, die jetzt dort in den kalten dunklen Baracken eingeschlossen sitzen. Die Türen sind mit Brettern verschlagen, die Opfer sind dort wie im Käfig eingesperrt.

Die Familien wurden schon getrennt, zerrissen, dorthin verschleppt: Die einsame Frau weint in der einen Baracke, der Mann in der anderen, und die größeren Kinder in der dritten Gruft, sie sitzen dort und weinen, rufen noch nach der Mutter und dem Vater.

Alle im Lager gehen bedrückt umher und gucken instinktiv in die Richtung, in die Ecke, dorthin über die Drähte und Zäune zu den überfüllten Baracken, die jetzt Tausende von Welten halten und für die sich jetzt die letzte Nacht schreibt.

Die Vorbereitung der „Macht"

Schon drei Tage zuvor, am Montag, dem 6. März 1944, sind die drei gekommen: der Lagerführer, der kalte Mörder und Bandit, der Oberscharführer Schwarzhuber, der Oberrapportführer Oberscharführer. . . und unser Oberscharführer Fast, der Chef aller vier Krematorien. Alle zusammen umkreisten das ganze Gelände der Krematorien und arbeiteten den „strategischen" Plan aus, wie z. B. wohin man die Posten und die verstärkten Wachen stellt. Diese militärischen Vorbereitungen sollten für den Tag ihrer großen Freude vorbereitet sein.

Bei uns rief es eine große Überraschung hervor, weil es in unserer sechzehnmonatigen tragischen scheußlichen „Sonderarbeit" zum ersten Mal passierte, daß die Macht solche Sicherheitsvorkehrungen traf.

Es sind vor unseren Augen schon hunderttausende kräftige junge vollblütige Leben hindurchgegangen, nicht einmal waren es die Transporte von Russen, Polen und auch Zigeunern, die wußten, daß man sie zum Tode brachte, keiner hat versucht, Widerstand zu leisten oder zu kämpfen. Alle sind wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen. Während der sechzehn Monate kann ich nur zwei Fälle als Ausnahme verzeichnen. Ein dreister mutiger Junge aus dem Bialystoker Transport warf sich mit einem Messer auf die Posten und stach etliche blutig, und dann wurde er auf der Flucht erschossen. Der zweite Fall - vor welchem ich mein Haupt in Hochachtung neige, und Ehre sei ihm - der Fall mit dem „Warschauer Transport". Es waren die Juden aus Warschau, die amerikanische Bürger waren, und unter ihnen waren auch gebürtige Amerikaner. Sie alle zusammen sollten von einem Internierungslager in Deutschland aus in die Schweiz geschickt werden und dort unter dem Schutz des Roten Kreuzes stehen. Die „kulturelle" herrliche Macht hat die amerikanischen Bürger anstatt in die Schweiz hierher in die Krematorien, ins Feuer gebracht. Und dann ist der heroische Fall geschehen, daß eine junge Heldin, Tänzerin aus Warschau, dem Oberscharführer von der „politischer Abteilung" in Auschwitz Quakernack den Revolver entrissen und den Rapportführer, den berühmten Banditen, den Unterscharführer Schillinger, erschossen hat.

Ihre Tat hat auch andere tapfere Frauen ermutigt, und sie haben um sich geschlagen und Flaschen und ähnliche Sachen den gereizten und wütenden Tieren, den uniformierten SS-Leuten, ins Gesicht geworfen.

Das waren die einzigen Transporte, bei denen die Leute Widerstand leisteten, weil sie wußten, daß sie nichts mehr zu verlieren hatten. Aber all die Hunderttausende sind bewußt wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen. Und deshalb haben die heutigen Vorbereitungen bei uns so eine Überraschung hervorgerufen. Wir haben abgeschätzt, daß zu „ihnen" irgendwelche Gerüchte gelangt sein müssen, daß die tschechischen Juden, die schon sieben Monate mit ihren ganzen Familien im Lager sind und genau wissen, was im Lager geschieht, daß diese Juden sich nicht so leicht das Leben nehmen lassen. Und deshalb bereiten sie sich mit allen technischen Mitteln auf den Kampf mit den Menschen vor, welche die „Chuzpe" haben würden, nicht zum Tod zu gehen, sondern gegen die „unschuldigen" Verbrecher Widerstand leisten zu wollen.

Am Montag um zwölf Uhr nachmittags schickte man uns in den Block hinein, um auszuruhen, damit wir dann mit frischen Kräften zur Arbeit kommen könnten. 140 Männer - fast der ganze Block - (der Verteilung nach 200 Männer) sollen heute zum Transport gehen, weil beide Krematorien l und 2 in vollem Gang sein werden.

Der Plan wurde mit aller militärischer Pünktlichkeit ausgearbeitet. Wir, die unglücklichsten Opfer unseres Volkes, wurden in die Kampflinie gegen unsere eigenen Schwestern und Brüder hineingezogen. Wir mußten in der ersten Linie sein, auf die sich die Opfer eventuell werfen würden, und hinter unserem Rücken standen die „Helden und Kämpfer der Großmacht" mit Maschinengewehren, Granaten und Pistolen, um von dort auf sie zu schießen.

Der erste und der zweite Tag ist vorüber, es ist der Mittwoch gekommen, und heute ist also der endgültig bestimmte Tag, an dem der Transport kommen muß. Der Transport wurde aus zwei bestimmten Gründen verschoben. Es hat sich erwiesen, daß man neben den strategischen Vorbereitungen auch moralische Vorsichtsmaßnahmen braucht. Und es gab noch eine Ursache, die die „Macht" sich speziell für die größeren Massaker ausgedacht hat - sie am jüdischen Feiertag anzuordnen. Das hat sie dazu gebracht, die Opfer am Mittwoch in der Nacht, wenn bei den Juden Purim ist, umzubringen. Die „Macht", die kalten Mörder und Verbrecher und die ausgeschulten blutigen Zyniker, haben in den drei Tagen alle eventuellen Schwindeleien zur Hilfe genommen, um ihre wirkliche barbarische Fratze zu verschleiern und die Gehirne stumpf zu machen. Sie sollen sich nicht über ihre Lage „orientieren", und sollen nicht etwa die bösen finsteren Gedanken herausfinden, mit denen sich die angeblich „kulturellen" gleisnerischen Vorsteher der Macht befassen.

Und der Betrug fing an

Die erste Fassung, die „sie" verbreitet haben, lautete, daß fünftausend tschechische Juden in ein zweites „Arbeitslager" verschickt würden, und sie müßten ihre Personalien angeben. Jeder bis zum vierzigsten Jahr ohne Unterschied, ob Mann oder Frau, mußte sein Fach und den Beruf angeben. Die übrigen älteren Menschen ohne Unterschied der Geschlechter wie auch Frauen mit kleinen Kindern würden wie bisher zusammen sein, die Familien würden nicht zerrissen werden. Das war das erste Opium, womit sie die erschrockene Masse betäubt und ihre Aufmerksamkeit von der tragischen Wirklichkeit abgelenkt haben.

Der zweite Schwindel war, daß alles Gepäck, das jeder noch bei sich hatte, auf die Reise mitgenommen werden mußte, und die „Macht" hat spezielle doppelte Portionen der ganzen auf die Reise vorbereiteten Masse ausgeteilt.

Und noch einen dritten sadistischen teuflischen Schwindel haben sie sich ausgedacht. Sie haben die Nachricht verbreitet, daß man aus ganz bestimmten Gründen bis zum 30. März keine Korrespondenz in die Tschechoslowakei schicken könne. Wer ein Paket bekommen wolle, müsse wie bisher einen Brief an seine Freunde schicken, der aber einige Wochen zurück [sic!] mit den Daten bis zum dreißigsten datiert sein müsse. Man werde diese Briefe fortlaufend abschicken, und die dann eintreffenden Pakete würden die Empfänger wie bisher in Ordnung bekommen. Niemand von ihnen hat es begriffen, keiner konnte sich vorstellen, daß die „Macht" so schuftig und niederträchtig sein kann, daß sie solche gemeinen verbrecherischen Schwindeleien anwendet, im Kampf gegen wen? Gegen die schutzlose und waffenlose Masse, mit bloßen Händen ohne Gewehr, deren einzige Kraft in ihrem Willen steckt.

Der ganze gut ausgedachte Betrug war das beste Mittel, um selbst realistisch denkende und die Wirklichkeit erkennende Menschen zu beruhigen und zu paralysieren. Alle ohne Geschlechts- und Altersunterschied sind der Illusion verfallen, daß man sie bestimmt zur Arbeit führen würde, und dann - als die Banditen gefühlt haben, daß ihr „Chloroform" schon „gut" wirkt, sind sie zur Durchführung der Vernichtungsoperation geschritten.

Sie haben die Familien zerrissen, in Stückchen zerzupft - Frauen und Männer getrennt, die Alten und die Jungen getrennt, und so hat man sie in der Falle eingefangen, dort im nebenstehenden leeren Lager. Sie lockten die naiven Opfer in die hölzernen kalten Baracken hinein, jede Gruppe führte man getrennt dorthin, und die Türen vernagelte man mit Brettern. Die erste Phase war gelungen. Die Opfer waren zerstreut, betäubt, sie konnten nicht mehr logisch denken, weil sie gerade dann, wenn sie sich schon orientierten, feststellten, daß man sie gefangen hatte, um sie zu töten. Sie waren wehrlos und hatten auch keine Kraft mehr, an Kampf und Widerstand zu denken, weil jeder Kopf, jedes Gehirn, das vom Opium, von der Illusion nüchtern wurde, sich nun mit den neuen Sorgen beschäftigte. Ein junger, vollblütiger Junge oder ein Mädchen machten sich Sorgen um ihre Eltern. Wer weiß, was mit denen los ist. Und junge Männer, voll Mut und Kraft, waren auch erschüttert und saßen dort in Trauer und überlegten, was mit ihren jungen Frauen und Kindern, die heute von ihnen fortgerissen worden waren, geschehen sein mochte. Jeder stürmische Vorschlag, zu kämpfen und Widerstand zu leisten, wurde infolge des individuellen Schmerzes sogleich abgelehnt. Jeder wurde von seinem Familienunglück gefesselt, und das hat seine Überlegungen und sein Denken niedergedrückt und paralysiert, wegen der allgemeinen Lage, in welcher er sich alleine befand. Und die in Freiheit so junge, energische und kämpferische Masse ist betäubt, resigniert, enttäuscht und zerbrochen sitzen geblieben.

Die fünftausend Opfer sind auf die erste Stufe zum Grab ohne Widerstand herausgetreten.

Der lang in der Teufelspraktik geübte Betrug hat Erfolg gefeiert.

Das Hinausführen zum Tod

Am Mittwoch in der Purimsnacht am 8. März 1944 sind die glücklichen Juden jener Länder, in denen sie noch leben, in ihre Synagogen und Gebetshäuser oder an einen anderen Ort gegangen, um den großen Feiertag, das symbolische nationale ewige Purimgeheimnis, zu feiern, und sie haben sich gewünscht, daß möglichst bald das Ende des neuen, modernen Hamans kommen solle.

In der selben Zeit sind 140 Juden des „Sonderkommandos" in Auschwitz-Birkenau hinausmarschiert und sind auch irgendwohin gegangen. Sie sind aber nicht in die Synagoge gegangen, um den Feiertag zu feiern und um das große Purimgeheimnis zu verehren.

Sie sind wie Trauernde mit in Trauer tief gesenkten Häuptern gegangen. Tiefer Gram und Schmerz verbreiteten sich überall durch sie und hat alle Juden im Lager angesteckt. Ihr Weg, den sie jetzt marschierten, war nämlich der Weg zum Krematorium, zur Hölle des jüdischen Volkes. Und sie werden bald, anstatt mit dem jüdischen Volk zu feiern, daß sie vom Tode zum Leben erwacht sind, der Freude des piratischen Volkes zuschauen, das das große Fest der Vollstreckung des alten Urteils feiern wird. Eines Urteils, das von ihrem Gott in neuer Kraft erneuert worden war.

Wir werden bald zu Zeugen, mit unseren eigenen jüdischen Augen werden wir dazu gezwungen, der eigenen Vernichtung zuzuschauen. Wir werden sehen, wie fünftausend Menschen, fünftausend Juden, fünftausend vollblütige, frische, blühende Leben von Frauen und Kindern, alten und jungen Männern, von Menschen ohne Geschlechts- und Altersunterschied, dem Druck der ausgeschulten Verbrecher ausgeliefert werden. Der Verbrecher, die Revolver, Granaten und Maschinengewehre benutzen werden und die mit Hilfe ihrer ständigen Partner, der wilden Vierfüßigen, der wütenden Hunde, die Opfer verfolgen, ihnen nachjagen und sie mörderisch schlagen werden, um sie zu betäuben und ihnen die Besinnung zu rauben. Die Opfer werden dann verblendet in die Arme des Todes laufen.

Und wir, ihre eigenen Brüder, müssen dabei noch helfen, sie von den Autos herunternehmen, sie in die Bunker führen, den Müttern helfen, sich nackt auszuziehen. Und dann die, die schon ganz bereit sein werden, in den Bunker, ins Grab, in den Tod führen.

Als wir dorthin auf den Platz vor der großen Hölle des Krematoriums l ankamen, waren sie, die Vorsteher der Macht, schon da und hatten sich auf die Schlacht vorbereitet. Es waren viele SS-Männer in Kriegsbereitschaft angekommen. Sie luden ihre Revolver mit vielen Kugeln, und sie trugen viele Granaten an der Seite. Diese gut ausgerüsteten Soldaten hatten das Krematorium ringsherum eingekreist und hatten die Stellungen bezogen, von denen aus sie in jedem Fall zum Kampf bereit sein würden. Autos mit Reflektoren waren in jedem Winkel aufgestellt, um das große Schlachtfeld gut zu beleuchten. Und es hat dort auch ein spezielles Auto mit Munition bereit gestanden, für den Fall, daß Kugeln gegen den so starken Feind fehlen sollten...

[...]

Es war schon alles vorbereitet. Siebzig Mann unseres Kommandos wurden als Posten in die Umgebung des bezaunten Krematoriums gestellt. Und sie stehen hinter uns - außerhalb des Zaunes -, auf alles vorbereitet mit auf die Opfer gerichteten Gewehrläufen.

Autos und Motorräder fahren hin und her. Man fährt „dahin" und „dorthin", um sich zu versichern, daß alles in Ordnung läuft. Es herrscht Totenstille im Lager. Alles, was noch lebt, muß in die hölzernen Grüfte verschwinden und dort bleiben. Jetzt hört man in der Nachtstille ganz neue Schritte. Es marschieren hier die Soldaten mit den aufgesetzten Helmen. Sie gehen mit voll geladenem Gewehr, als ob sie aufs Schlachtfeld gingen. Es ist heute zum ersten Mal der Fall, daß die Soldaten während der Nacht ins Lager kommen, wenn alle schlafen und hinter den Drähten und Zäunen liegen. Es wurde über das Lager sogar der Kriegszustand verhängt.

Alles Lebendige muß jetzt in Ruhe und bestürzt dort in den Käfigen sitzen. Und dies, obwohl alle es schon kennen. Sie haben es doch schon mehrmals gesehen, wie man die Opfer frei ins Tageslicht führt. Alle haben es gesehen, alle waren schon Zeugen, wenn man sie zum Tode führt. Aber heute, heute haben sie es anders gemacht, um größeren Schrecken und größere Angst zu bewirken. Nur die Nacht, den Himmel mit den Sternen und mit dem leuchtenden Mond kann der Teufel nicht dazu zwingen, die Augen zu schließen. Nur sie werden die Zeugen dessen sein, was der Teufel heute in der Nacht tun wird.

Man hört in der Stille, in der geheimnisvollen Nachtstille, das Geräusch der Autos. Sie fahren ins Lager, sie nehmen schon die Opfer auf. Es heulen die bösen und wilden Hunde. Die „Freunde" sind schon bereit, sich auf die Opfer zu werfen. Man hört die klingenden Stimmen der betrunkenen Offiziere und Soldaten, die da schon bereit stehen.

Es sind auch die deutschen und polnischen „Häftlinge" gekommen, die an diesem Feiertag freiwillig ihre Hilfe angeboten haben, und sie alle zusammen, Mörder, das Teufelsgesindel, sind gekommen, um die Opfer in die Autos einzupferchen und sie zum Krematorium zu schicken.

Die eingeschlossenen Opfer sitzen dort in Todesangst, und ihre Herzen klopfen sehr stark. Sie sitzen dort wild gespannt. Sie hören alles, was draußen los ist. Sie sehen durch die Spalten in ihren Grüften die Mörder, die Räuber, die schon mit den Autos warten, damit sie ihre Leben fangen könnten. Sie wissen, daß es nicht mehr sehr lange dauern wird, und sie bleiben nicht lange in dieser dunklen Gruft, in der sie jetzt gerne für die Ewigkeit bleiben würden. Sie werden mit Gewalt hier herausgezerrt und irgendwohin zum Teufel in die Hölle abgeführt.

Ein grausames Zittern überkam die resignierte Masse, und sie blieben alle stumm in ängstlicher Spannung wie tot auf der Stelle stehen. Sie hörten jetzt die Schritte, die sich ihnen näherten, und ihre Herzen standen still. Das Brett wurde von der ersten Gruft abgerissen. Das vernagelte Brett hatte für die Opfer auch eine Schutzwand dargestellt. Solange das Brett vernagelt blieb, waren sie nämlich dadurch noch vom Tod getrennt, und sie hofften irgendwo tief im Innern noch, daß sie vielleicht ewig in dem Käfig sitzen bleiben könnten - bis sie dort aus dem Gefängnis befreit würden.

Und jetzt, die Tür öffnet sich und die Opfer bleiben nervös und zitternd stehen, sie schauen erschrocken auf die Bestien, und sie ziehen sich instinktiv wie vor einem Gespenst in die Tiefe der Gruft zurück. Sie würden gerne irgendwohin entfliehen, entlaufen, damit das barbarische Auge sie nicht sähe.

Sie erschraken, als sie die Gesichter sahen, alle die Gesichter der Leute, die gekommen waren, um ihnen das Leben zu nehmen. Die bösen und wilden Hunde, die sie mitnahmen, heulten, und die Bestien warfen sich schon auf die ersten Opfer, und bald verbreitete sich unter den jungen jüdischen Frauen große Angst vor den Polen und den Deutschen. Die verzweifelte Masse verband sich zu einem Knäuel und war in ein Stück zusammengegossen, und es fing an, sich stückchenweise zu zerreißen - bis die Masse in Stückchen zerfiel. Die resignierten, enttäuschten, zerbrochenen Frauen liefen, um sich von den Autos aufnehmen zu lassen, weil sie dem Beißen der wilden Hunde oder den Schlägen der wütenden Bestien entkommen wollten. Einige fielen beim Laufen mit ihrem Kind, und der unersättliche Boden begann sich gleich mit dem warmen Blut aus dem jungen jüdischen Köpfchen zu sättigen.

Die Opfer stehen schon auf den Autos zur Abfahrt bereit, und sie schauen umher und suchen, als ob sie etwas verloren hätten. Es scheint der jungen Frau, daß vielleicht dort ihr geliebter Gatte kommt - die Mutter sucht mit den Augen in dieser tragischen Nacht, ob ihr junger Sohn nicht zufällig zu ihr kommt. Und das verliebte Mädchen sucht und tappt, ob es irgendwo auf den Autos unter den Menschen seinen Geliebten findet.

Sie schauen nervös ringsherum auf die schöne Welt, auf den Himmel mit den Sternen und dem Mond, der dort so majestätisch spaziert. Sie schauen in die wüste Gruft, in der sie zuvor gesessen hatten. Ach, könnten sie dorthin zurückkehren! Sie wissen und fühlen, daß das Auto einen unfesten Boden hat, auf dem sie sich nicht lange halten werden. Ihre Augen wandern zu dem Lager, zu jenem Lager, in dem sie noch gestern waren. Es stehen dort die erschrockenen tschechischen Familien und gucken durch die Spalten auf ihre Schwestern und Brüder, die irgendwohin fortgeführt werden.

[...]

Es ist dem Teufel schon die zweite Phase gelungen, es ist ihm gelungen, die Opfer schon auf die zweite Stufe zur Gruft zu stellen.

Sie kommen

Sie fahren. Alles ist angespannt... Sie, die Mörder, machen ihre letzten Vorbereitungen. Und unsere Blicke wenden sich dorthin, zu jenem Winkel, zu jenem Punkt, von welchem sich das Geräusch von den Autorädern nähert.

Wir hören schon die uns so gut bekannten Motorräder und die Autos, die so wild fahren, als ob sie jemanden verjagen wollten. Die erste Gruppe von Opfern ist schon da. Wir sehen schon von weitem die leuchtenden Autoreflektoren, die sich mehr und mehr uns nähern.

Sie fahren, sie kommen. Wir sehen, von weitem sehen wir schon die Schatten von menschlichen Geschöpfen. Es dringt zu unseren Ohren ihr stilles Weinen und Schluchzen, das aus ihren Herzen quillt.

[...]

Der Lärm wird immer stärker, die Reflektoren beleuchten schon das Gebäude der riesigen Hölle.

Sie sind da

Die unglücklichen Opfer sind schon gekommen. Die Autos sind stehengeblieben. Die Herzen der Opfer zittern. Die Opfer stehen hier wild erschrocken, unbeholfen, resigniert und enttäuscht. Sie schauen auf dem Platz umher, auf das Gebäude, in welchem bald ihre Welten, ihre jungen Leben, ihre frischen Körper für die Ewigkeit verschwinden werden.

Sie stehen hier verworren, entwaffnet und resigniert. Sie haben schon die wirkliche Wahrheit mit ihren eigenen Augen erkannt, der Abgrund ist schon geöffnet, und sie fallen in ihn hinein.

[...]

Sie werfen ihr Gepäck ab - alles, was sie auf die „Reise" mitgenommen haben -, sie dürfen keine Sachen bei sich haben, und sie wollen es auch nicht.

Sie lassen sich frei, ohne Widerstand, aus den Autos herabnehmen, sie fallen wie ohnmächtig, wie die abgeschnittenen Ähren, gerade in unsere Arme. Na, nimm mich, mein lieber Bruder, an die Hand und führe mich das kleine Stück meines Lebensweges, das mir noch bis zum Tod übrig bleibt.

Wir führten sie, unsere lieben, teuren, zarten Schwestern, wir hielten sie unter den Armen und gingen stumm Schritt für Schritt, und unsere Herzen klopften rhythmisch. Wir litten mit ihnen, bluteten genauso wie sie, und wir spürten, daß wir mit jedem Schritt weiter vom Leben fort und näher zum Tod waren.

Und bevor sie in den tiefen Bunker hinabstiegen, bevor sie die erste Stufe in die Gruft hinabgingen, schauten sie noch zum letzten Mal zum Himmel und zum Mond hinauf - und aus beiden Herzen entrang sich instinktiv ein tiefer Seufzer. Es glänzten im Mondschein die Tränen der Schwester, die er führte, und eine zitternde Träne blieb auch im Auge des Bruders stehen.

Im Auskleideraum

Der große tiefe Saal, in dem zwölf Säulen stehen, die die Last des Gebäudes tragen, wird jetzt stark mit elektrischem Licht beleuchtet. Die Bänke und die Kleiderhalter für die Sachen der Opfer an den Wänden entlang und um die Säulen sind schon lange vorbereitet. An der ersten Säule hängt das Schild, auf dem in verschiedenen Sprachen erklärt wird, daß man ins „Bad" gekommen sei und daß man die Sachen ausziehen müsse, weil sie desinfiziert werden müßten.

Wir sind genauso getroffen wie die Opfer, und wir schauen uns bestürzt um. Sie wissen alles, sie verstehen alles, sie wissen, daß es kein Bad ist, sondern daß der Saal nur ein Korridor ist, der in die Gruft führt.

Der Saal wurde mit den Menschen vollgefüllt. Es kommen Autos mit frischen Opfern, und der „Saal" schlingt alle in sich hinein. Wir stehen alle bestürzt und sind kaum fähig, ein Wort zu sagen. Obwohl es nicht der erste Fall ist. Wir haben schon viele solche Transporte gehabt, und wir haben solche Bilder wie heute nicht zum ersten Mal gesehen. Und trotzdem fühlen wir uns sehr schwach, als ob wir in Ohnmacht fallen würden.

[...]

Wir haben überhaupt keinen Mut gefunden, so dreist zu sein, unseren lieben Schwestern zu sagen, daß sie sich nackt ausziehen sollen. Die Sachen, die sie noch angehabt haben, bilden nämlich einen Schutzmantel, in dem ihr Leben ruht. In dem Moment, wenn sie die Sachen ausziehen und ganz nackt stehen bleiben, verlieren sie ihre letzte Stütze, in der ihr Leben jetzt noch gehüllt ist. Wir möchten ihnen also nicht sagen, daß sie sich schnell ausziehen sollen. Sie sollen noch eine Weile, nur noch einen Augenblick, in ihren Panzern, im Mantel des Lebens, stehen bleiben.

Die erste Frage, die alle Frauen auf den Lippen haben, ist, ob die Männer schon angekommen seien. Sie würden gerne wissen, ob ihr Mann, ihr Vater, ihr Bruder oder der Geliebte noch leben. Oder ob deren tote Leiber irgendwo herumliegen, oder ob das Feuer sie schon verbrannt hat und kein Andenken an sie bleibt und sie einsam bleiben, elend mit dem Kind, dem Waisen. Eine denkt jetzt nach, daß sie vielleicht ihren Vater, Bruder und Geliebten für immer verloren hat. Warum, für wen sollte sie dann am Leben bleiben? Sag mir, mein Bruder, fragt eine andere Frau, die schon lange in ihren Gedanken der Welt und dem Leben für immer entfremdet ist, sie fragt uns direkt und mit mutiger Stimme: „Sagt ihr, Brüder, dauert der Tod lange? Ist er schwer? Oder kommt er leicht?"

Aber man läßt sie nicht lange so stehen. Die mörderischen Bestien geben ihnen gleich von sich zu spüren. Die Luft wird vom Geschrei der betrunkenen Banditen zerrissen, die ihre tierischen Augen noch schnell an ihrer Nacktheit, der Nacktheit meiner lieben schönen Schwestern, sättigen wollen. Die Stöcke fallen auf die Rücken, Köpfe u.s.w. Die Sachen fallen schnell von den Körpern ab. Ein Teil von ihnen schämt sich, sie möchten irgendwohin verschwinden, sie möchten nicht ihre Nacktheit vorzeigen. Es gibt hier aber keinen Winkel, es gibt hier keinen Platz für die Scham. Die Moral mit der Ethik - die gehen in der Gruft genauso wie das Leben zugrunde.

[...]

Es kommen noch viele neue Autos, und die Opfer kommen in den großen Saal. Aus der Reihe der Nackten reißen sich viele Frauen los, werfen sich wild weinend und schreiend zu den neu Angekommenen, weil die nackten Kinder ihre Mütter erkannt haben, und sie küssen sich, umarmen, freuen sich darüber, daß sie wieder zusammengekommen sind. Und das Kind fühlt sich glücklich, weil die Mutter, das mütterliche Herz, es in den Tod begleiten wird.

Alle ziehen sich aus und stellen sich in eine Reihe. Ein Teil weint, einige stehen und zittern still. Eine reißt sich die Haare aus dem Kopf und redet wild zu sich selber. Als ich näher komme, höre ich nur diese Worte: „Wo bist du, mein Geliebter, warum kommst du nicht zu mir, ich bin doch jung und schön genug." Die Frauen, die um sie herumstanden, haben mir gesagt, daß sie schon gestern abend im Gefängnis verrückt geworden sei.

Andere reden zu uns still und ruhig: „Ach, wir sind doch noch so jung! Wir würden so gerne noch leben, könnten wir noch mindestens ein Stückchen vom Leben abreißen!" Sie bitten uns um nichts. Sie wissen nämlich und verstehen. daß auch wir Opfer sind so wie sie. Sie möchten mit uns nur reden. Meistens reden sie, weil ihre Herzen übervoll sind, und sie möchten sich vor dem Tod dem noch lebendigen Menschen mit ihren Leiden anvertrauen.

Es sitzt dort auch eine Gruppe von Frauen. Sie umarmen sich und küssen sich. Es haben sich Schwestern getroffen, sie gießen sich zusammen in einen Knäuel, in eine Masse.

Und dort sitzt auf der Bank eine nackte Mutter und hält im Schoß ihre kleine Tochter, ein Kind, ein Mädchen, das erst kaum fünfzehn Jahre alt ist. Die Mutter drückt seinen Kopf an ihre Brust und küßt es auf alle Glieder seines Körpers. Der Strom von heißen Tränen fällt auf die junge Blume. So beweint die Mutter ihr Kind, das sie bald mit eigenen Händen in den Tod führen wird.

Im Saal, in der großen Gruft, strahlt jetzt ein neues Licht. Auf einer Seite der großen Hölle stehen jetzt die Frauenkörper, weiß wie Alabaster, ausgestellt, die warten, bis die Tür zur Hölle geöffnet wird und ihnen der Weg zum Tod frei sein wird. Wir, die angezogenen Männer, stehen ihnen jetzt gegenüber und schauen bestürzt auf sie. Wir können nicht begreifen, ob dieses Bild Wirklichkeit oder nur ein Traum ist. Ob wir irgendwohin in eine nackte Frauenwelt hineingefallen sind, wo bald ein Spiel des Teufels mit ihnen beginnen sollte. Oder ob wir irgendwohin in ein Museum gefallen sind, in ein Künstleratelier, und die Frauen verschiedenen Alters, die mit verschiedenen Grimassen das stille Weinen und Schluchzen gestalten, hier speziell für den Künstler als Modelle stehen. Sie kamen wegen seiner Kunst.

Wir waren nämlich alle verwundert, daß diese Frauen, im Gegensatz zu anderen Transporten, so ruhig waren. Der größte Teil von ihnen war sehr mutig und sorglos, als ob nichts geschehen sollte. So heldenhaft, mit einer solchen Ruhe schauten sie dem Tod ins Gesicht! Es hat uns sehr überrascht. Wissen sie etwa nicht, was sie erwartet? Wir schauen auf sie mit Reue, weil wir schon ein weiteres, schreckliches Bild vor uns sehen, wie alle diese frischen Leben, die wie sprudelnde Welten Geräusche und Geplauder von sich geben, in einer Stunde vom Tod verschlungen werden. Ihre Münder werden für immer zum Schweigen gebracht. Die strahlenden Augen, die uns jetzt so bezaubern, werden starr in eine Richtung schauen - sie werden etwas in der Ewigkeit der Toten suchen.

Die schönen, reizenden Körper, in denen das Leben sprudelt, werden ekelhafte, ausgezogene Geschöpfe, die auf dem Boden im Schmutz und Dreck herumliegen werden. Die alabasterreinen Körper werden vom menschlichen Kot befleckt.

Aus dem Mund voll von Perlen werden die Zähne, auch mit dem Fleisch, ausgerissen, und es wird viel Blut fließen.

Aus der edlen Nase werden zwei Ströme rinnen, von roter, gelber oder weißer Farbe.

Und das Gesicht, jetzt so weiß und rosa, wird rot, blau oder schwarz vom Gas sein. Die Augen sind blutunterlaufen, so daß du überhaupt nicht erkennst, daß du dieselbe siehst, die jetzt noch vor dir steht. Den Kopf mit den gelockten Haaren werden zwei kalte Hände scheren, und aus den Ohren und von den Händen werden ihnen die Ohrringe und Armbänder abgenommen.

Und dann ziehen zwei fremde Männer die Handschuhe an, sie binden die Hände mit einem Band zusammen, die Hände, die jetzt schneeweiß, strahlend sind, die aber dann ekelhaft sein werden, und die Männer werden die Hände überhaupt nicht berühren wollen. Sie werden die schönen jungen Blumen auf dem kalten, schmutzigen Zementboden wegziehen. Und der Körper wird allen Dreck, den er trifft auf dem Weg, aufwischen.

Und dann wirft man sie wie ein ekelhaftes, schmutziges Tier weg. Sie wird im Aufzug in die Hölle, dorthin nach oben zum Feuer, weggeschickt, und in einer Minute werden die dicken, fetten Körper in Asche verwandelt.

[...]

Unsere Herzen krampfen sich vor Mitleid zusammen. Ach, könnten wir ihnen wenigstens ein Stück unseres Lebens leihen, könnten wir uns für unsere lieben Schwestern opfern, wie glücklich wären wir! Wir würden sie gerne an unser betrübtes Herz drücken, wir würden gerne ihre Körper abküssen, uns vom Leben, das so bald verfliegt, berauschen. Wir würden gerne tief ins Herz das Bild einprägen, wie die so jungen Leben, die für uns hingegeben werden, jetzt aussehen. Wir sind aber alle voll im Bann der scheußlichen Vorstellung, von der wir uns nicht befreien können. Die lieben Schwestern gucken verwundert auf uns, warum wir so verzweifelt seien, da sie doch so ruhig sind. Sie möchten jetzt viel mit uns reden: Was geschieht mit ihnen, wenn sie tot sind? Sie wären dafür aber nicht tapfer genug - und so bleibt ihnen das Geheimnis bis zu ihrem Ende verschwiegen.

Es steht jetzt die ganze Masse, die große nackte Masse, da und guckt starr in eine Richtung, als ob sie alles wüßte, als ob der finstere Gedanke ihr gerade in den Sinn käme.

Es liegen auf der anderen Seite des Raumes alle ihre Sachen in einem Knäuel, in dem die einzelnen Haufen gemischt sind. Es sind dort ihre Sachen, die sie von sich abgeworfen haben. Die Sachen lassen sie nicht in Ruhe. Obwohl sie wissen, daß sie jetzt nichts mitnehmen dürfen, sind sie mit diesen Sachen durch viele imaginäre Fäden verbunden. Sie fühlen, daß sie mit den Sachen verbunden sind, weil die Sachen noch die Wärme ihres Körpers festhalten. Jetzt liegen sie abgeworfen, dort das Kleid, da der Pullover, der sie früher gewärmt und geschützt hat. Ach, könnten sie ihn noch einmal anziehen! Wie glücklich würden sie in der guten Bekleidung sein! Ist es wirklich so schlimm, ist ihre Lage wirklich so tragisch, daß sie ihre Sachen niemals mehr auf ihre Körper anziehen werden?

Bleiben sie wirklich ewig so? Werden sie wirklich nie zu den Sachen zurückkommen?

Ach, die Sachen bleiben dort wie Waisen. Wie Zeugen, wie eine Botschaft, ein Beweis des Todes, der schon bald kommt.

Ach, wer weiß, wer noch diese Sachen tragen wird! Eine tritt aus der Reihe heraus und hebt ihren Seidenschal unter dem Fuß ihrer Freundin hervor, die auf ihn getreten ist. Sie nimmt ihn schnell und verschwindet mit ihm in der Reihe. Ich frage sie: „Wofür brauchst Du das Tuch?" „Es ist für mich das Andenken, mit dem ich ins Grab gehen möchte", antwortet mir das Mädchen leise.

Der Marsch zum Tod

Die Tür wurde mit Lärm aufgemacht. Es öffnete sich breit die Hölle vor den Opfern. Im kleinen Zimmer, das zum Grab führt, stehen die Vorsteher der Großmacht wie zu einer Militärparade aufgestellt. Die ganze politische Abteilung kam heute, um das große Fest zu sehen. Die Offiziere mit hohen Chargen, deren Gesichter wir während der sechzehn Monate noch niemals gesehen haben. Es steht unter ihnen auch eine Frau, die „SS-Frau", die Leiterin des Frauenlagers. Auch sie will bei der großen „nationalen" Feier sein, wenn die Kinder unseres Volkes ums Leben kommen.

Ich stehe abseits und beobachte die beiden Seiten. Die Banditen, die scheußlichen Mörder - und meine Schwestern, die unglücklichen Opfer.

Der Todesmarsch hat begonnen. Sie gehen stolz, mit festem Tritt, keck und mutig, als ob sie dem Leben entgegen gingen. Es bricht sie auch nicht, wenn sie schon den letzten Ort, die letzte Ecke sehen. Als ob sich der letzte Akt ihres Lebens abspielte. Sie verlieren nicht den festen Boden unter ihren festen Füßen, wenn sie schon sehen, daß sie im Herzen der Hölle gefangen sind. Sie haben schon längst mit der Welt und mit ihrem Leben abgerechnet - noch bevor sie hierher gekommen sind. Sie haben schon im Gefängnis alle Fäden mit dem Leben abgerissen. Deshalb gehen sie jetzt so ruhig, gelassen und widersetzen sich nicht, wenn sich das Ende nähert. Es marschieren unaufhörlich die nackten, vollblütigen Frauen. Es scheint, als ob der Marsch eine Ewigkeit, eine ganze Ewigkeit dauert.

Es scheint, als ob sich jetzt ganze Welten ausgezogen hätten und auf einem teuflischen Spaziergang wären.

Es gehen Mütter mit kleinen Kindern, die sie auf den Armen halten, andere werden an der Hand geführt. Sie küssen die Kinder - das mütterliche Herz ist ungeduldig - sie küssen ihre Kinder während des ganzen Weges. Es gehen die armen Schwestern, in einen Knäuel eingegossen. Sie möchten gemeinsam dem Tod entgegen gehen.

Alle schauen mit verachtenden Blicken auf die aufgestellten Offiziere, oder sie würdigen sie sogar kaum eines Blickes. Keine bittet sie um etwas, keine sucht bei ihnen Erbarmen. Es ist den Opfern schon alles klar, sie wissen, daß in den Herzen der Offiziere kein Funke des menschlichen Gewissens ruht. Sie möchten ihnen nicht das große Vergnügen machen und in Verzweiflung um ihr Leben betteln.

Auf einmal blieb der Zug von nackten Frauen stehen. Es geht dort ein blondes schönes Kind, ungefähr neun Jahre alt, mit schön geflochtenen Zöpfen, die wie goldene Stränge auf den Kinderrücken herabhängen. Hinter ihm geht stolz seine Mutter, und jetzt bleibt sie stehen und beginnt mutig und kühn in die Richtung, wo die Offiziere stehen, zu reden: „Mörder, Banditen, unverschämte Verbrecher! Ja, Ihr tötet uns, die unschuldigen Frauen und Kinder. Ihr schiebt die Schuld an dem Krieg auf uns, auf die Wehrlosen und Schutzlosen. Ich und mein Kind, wir, wir hätten Euch in den Krieg hineingezogen. Aber bedenkt, Banditen, daß Ihr mit unserem Blut die Mißerfolge an der Front verdecken wollt. Ihr verliert den Krieg gewiß. Ihr wißt doch ganz genau Bescheid über die tagtäglichen großen Niederlagen an der Ostfront. Bedenkt, Banditen! Ihr könnt jetzt noch alles ruhig machen, aber es kommt der Tag der Rache. Es rächt uns das große siegreiche Rußland! Sie werden Eure lebendigen Körper zerschneiden. Unsere Brüder auf der ganzen Welt finden keine Ruhe, bis sie unser unschuldiges Blut gerächt haben." Und dann wendet sie sich zu der Frau und sagt: „Und Du, Frauenbestie, Du bist auch gekommen, um unser Unglück zu sehen. Denk daran, daß Du auch ein Kind hast, eine Familie, aber Du wirst Dich ihrer nicht lange freuen. Man wird lebendige Stücke Fleisch von Dir abreißen, und Dein Kind wird - so wie meines - nicht lange leben. Vergeßt nicht, Banditen, daß Ihr für alles bezahlen werdet! Die ganze Welt wird sich an Euch rächen."

Dann hat sie vor ihnen ausgespuckt und ist mit dem Kind in den Bunker hineingelaufen. Sie blieben stumm, bestürzt. Niemand fand den Mut, den anderen anzusehen. Sie haben jetzt die große Wahrheit gehört, die sich in ihre tierische Seele einschneidet, einreißt. Sie ließen sie reden, obwohl sie wußten, was sie ihnen sagt. Sie wollten es aber hören, sie wollten hören, was die jüdische Frau, die in den Tod geht, denkt, und was sie ihnen zu sagen hat. Nun stehen die Mörder und Banditen ernst da, in Gedanken verloren. Die Frau aus dem Grab hat den Banditen die Maske abgerissen und hat ihnen die nahe Zukunft vor Augen gestellt, wie es mit ihnen bald aussehen wird. Sie dachten schon mehrmals daran, es sind ihnen schon mehrmals die finsteren Gedanken in ihren Köpfen erschienen. Und jetzt hat ihnen die Jüdin die Wahrheit gesagt. Sie hat sich nicht geschämt und hat vor ihnen die wahre Wirklichkeit aufgedeckt.

Sie haben Angst, weiter darüber nachzudenken, weil die Wahrheit immer tiefer durchdringt. Warum und wofür leben sie eigentlich? Aber nein, der Führer, der Gott, erklärt es ihnen doch ganz anders, der Sieg ist doch gar nicht dort auf dem Schlachtfeld im Osten oder im Westen ... Nur hier, im Bunker, hier ist der Sieg, hier marschieren die größten Feinde, derentwegen das Blut auf allen Schlachtfeldern Europas vergossen wird. Hier marschiert der Feind, weswegen die englischen Flugzeuge Tag und Nacht Bomben werfen und so die Jungen wie auch die Alten töten. Wegen dieser nackten Frauen müssen sie so weit von zu Hause sein, und ihre Kinder müssen ihr Leben im Osten einsetzen. Nein, der Führer, der Gott, ist gerecht. Man muß sie ausrotten, vernichten. Und dann, wenn diese nackten Frauen mit den Kindern tot liegen werden, dann kommt sicher schon der Sieg. Ach, könnte man nur alles noch schneller machen, könnte man sie schneller auf der ganzen Welt sammeln und hierher treiben und nackt ausziehen wie diese schon nackten Frauen und sie in die Hölle hineintreiben. Ach, wie gut wäre das! Die Kanonen würden aufhören zu schießen, die Flugzeuge würden aufhören, Bomben zu werfen, der Krieg würde enden. Die ganze Welt würde sich beruhigen.

[...]

Es marschieren weiter in Reihen die vielen jungen nackten Frauen. Und der Marsch bleibt jetzt wieder stehen. Es steht dort eine junge, reizende blonde Frau und redet zu den Banditen: „Ihr finsteren Verbrecher! Ihr schaut auf mich mit Eueren durstigen tierischen Augen. Ihr sättigt Euch an der Nacktheit meines reizenden Körpers. Ja, jetzt ist Eure Zeit. Ihr konntet Euch in Eurem Zivilleben kaum davon träumen lassen. Ihr Unterweltler und Verbrecher, Ihr habt Euch eine geeignete Ecke ausgesucht, damit Ihr Eure sadistischen Augen sättigen könnt. Ihr werdet Euch aber nicht lange daran erfreuen. Euer Spiel ist zu Ende, Ihr schafft es nicht, alle Juden umzubringen. Ihr werdet für alles teuer bezahlen." Und auf einmal sprang sie zu ihnen hin und schlug dreimal den Oberscharführer Fast, den Chef, den Leiter des Krematoriums, ins Gesicht. Es fallen die Knüppel auf ihren Kopf und ihren Rücken. Sie ist in den Bunker mit zerlöchertem Kopf, aus dem warmes Blut fließt, hineingegangen. Das warme Blut hat ihren Körper lieb geschmückt, ihr Gesicht lacht vor Freude. Sie ist glücklich und zufrieden, weil ihre Hand noch das Vergnügen der heftigen Ohrfeige auf das Gesicht des bekannten großen Mörders und Banditen spürt. Sie hat ihr letztes Ziel erreicht. Sie geht ruhig dem Tod entgegen.

Der Gesang aus dem Grab

Es stehen und warten Tausende von Opfern im großen Bunker. Sie warten auf den Tod. Plötzlich ertönt von dort heraus ein mitreißender, inbrünstiger Gesang. Die hohen Offiziere bleiben wieder bestürzt stehen. Sie begreifen nicht, sie können nicht verstehen, wie es möglich ist, daß die Leute dort im Bunker, im Herzen des Grabes, an der Schwelle des Untergangs, in den letzten Lebensminuten, daß sie, anstatt zu klagen, zu weinen über ihre jungen Leben, die sie jetzt verlieren werden, daß diese Leute ihre Stimmen zu einem gemeinsamen Gesang vereinigen. Vielleicht hat der Führer doch recht, wenn er sagt, daß sie Teufelskinder seien, denn wie sonst könnte ein Mensch so sorglos, mutig und ruhig dem Tod entgegen gehen.

Die Töne, die Melodie, die von dort erschallt, ist allen sehr gut bekannt. Und speziell für sie, für die Banditen, sind die Töne wie ein Messer, wie ein Spieß, der ihnen ins Herz dringt. Die Totenmasse singt dort die überall populäre „Internationale".

Die Internationale, die Hymne des großen russischen Volkes - sie singen dort das Lied von der siegreichen, starken Armee.

Das Lied erzählt ihnen, erinnert sie an die Front, an den Sieg, den nicht sie, sondern die Rote Armee feiert. Sie sind widerwillig von der Melodie mitgerissen. Das Lied drängt sich wie ein stürmisches Lob in ihr berauschtes Gemüt und zwingt sie aus ihrem abergläubischen Fanatismus nüchtern zu werden. Es erinnert sie an alles, was zur Zeit geschieht.

Das Lied zwingt sie, die Seiten der jüngsten Vergangenheit durchzublättern und die tragische, die entsetzliche Wirklichkeit zu erkennen. Das Lied erinnert sie daran, daß der „Führer-Gott" ihnen am Anfang des Krieges erklärt und ihnen mit seinem „Ich" versichert hatte, daß das große Rußland in sechs Wochen unter seinem Stiefel liegen und daß das schwarze „Hakenkreuz" in Moskau an der Roten Residenz flattern werde. Alle hatten ihm geglaubt, daß dem Anfang ein solches „Ende" folgen würde.

[...]

Die Melodie des Liedes läßt ihnen keine Ruhe. Es stört sie, zerbricht ihre Sicherheit, die sie bis jetzt gefühlt haben. Durch die Töne erreicht sie der Lärm der marschierenden Armeen, die mit Stolz und hochgemut über die Gräber ihrer Brüder treten. Unter den Tönen hören sie die Schießerei aus den Maschinengewehren und die Explosionen der geworfenen Bomben. Und die Melodie stärkt, die Töne reißen höher und höher mit. Alle, alle sind jetzt von der Melodie hingerissen, das Lied von dorther klingt wie eine stürmische Feier, und es ergießt sich über die ganze Welt und entflammt unterwegs alle mit Heldentum. Die Offiziersbande, die Vorsteher der starken Großmacht, fühlt, spürt, wie nichtig, wie minderwertig, wie klein sie ist. Es scheint ihnen, als ob die Töne lebendige Wesen würden, die eine der zwei kämpfenden Armeen vorstellen - die erste Armee siegt stolz und heroisch, und die zweite, die sie repräsentieren, steht jetzt stumm, bestürzt, und zittert vor Schreck und Angst.

Die Töne nähern sich ihnen immer mehr. Sie fühlen, daß die Töne mit Gewalt in alle Ecken dringen, und dort, wohin die Töne reichen, dort wird der Boden wackelig. Bald bleibt für sie kein Platz mehr übrig. Und der Boden, die einzige Sicherheit, wird bald auch von dem Lobgesang berauscht. Ach, die Töne, die Melodie! Sie redet vom Sieg, erzählt von der herrlichen Zukunft. Sie sehen schon vor ihren Augen, wie die siegreichen Roten Armeen laufen, wild vom Sieg berauscht durch die Straßen ihres Reiches, laufen und zertreten, zerschneiden, verbrennen alles, was existiert. Diese schwarzen Gedanken laufen ihnen durch den Sinn. Ist es nicht die Botschaft des Liedes, daß sehr bald die Rache verwirklicht wird, worüber die jüdische Frau vor einer Weile gesprochen hat? Werden sie nicht bald für die Sänger des Liedes bezahlen, denen sie jetzt das Leben nehmen? Wer weiß...

Hatikwa

Die Offiziersbande atmete wieder frei auf, weil der letzte Ton verklungen war. Es dauerte aber nicht lange. Ein neues Lied reißt sich mit Mut und Glauben aus der Tiefe der Herzen der Opfer. Die Masse singt die Nationalhymne. Sie singen jetzt Hatikwa. Auch dieses Lied ist „ihnen" gut bekannt, sie haben es schon mehrmals gehört. Die Masse singt die Nationalhymne mit Stolz und mit Freude. Und die Offiziersbande steht jetzt wieder still - wie gebannt. Das Lied erzählt ihnen, erweckt sie, es erinnert sie an etwas. Es redet zu ihnen durch das Lied die Totenmasse, die durch das Lied kühner geworden ist: „Ihr Banditen, Mörder der Welt! Ihr habt geglaubt - von Eurem ´Führer, von Eurem ´Gott´ verführt - Ihr habt gedacht, daß Ihr das Volk Israel umbringen würdet und dank seiner Ausrottung den Sieg erreichen würdet. Hört aber dieses Lied, das Euch etwas erzählt, und erinnert Euch daran, daß Ihr niemals Euren Sieg zum Nachteil des israelitischen Volkes erreichen werdet. Die Juden leben auf der ganzen Welt - in jedem Land, das Euer Fuß nicht erreicht hat, und auch in den Ländern, wo ihr Einfluß noch nicht so erkennbar ist. Auch in diesen Ländern leben noch Juden, und Ihr könnt gar nichts dagegen machen, weil die Völker dort schon nüchtern geworden sind und nicht mehr die unschuldigen Opfer aus wilder Barbarei und tierischer Grausamkeit töten möchten."

Das Lied erinnert sie daran, daß das alte Märtyrervolk Israel weiterleben und eine Zukunft erbauen wird, es wird sein Heim in seinem alten und so entfernten Land erbauen. Das Lied erinnert sie daran, es erzählt ihnen, daß sie sich zu leicht von der Illusion beeinflussen ließen, daß „der Jude auf der Welt nur im Museum bleibt" und daß niemand übrig bleibt, der sie rächen würde. Aber das Lied warnt sie auch, daß es auf der Welt noch Juden gibt, die sich nach dem Sturm aus allen Ecken der Welt versammeln werden, und jeder wird seinen Vater, seine Schwester und seinen Bruder suchen, und sie werden die Offiziere fragen: „Wo kamen die Kinder unseres Volkes ums Leben?!" Sie werden fragen, wo die Schwestern und Brüder sind, die bald ums Leben kommen, die, die jetzt das Lied singen. Alle übrigen Juden werden große Armeen bilden, deren einziger Zweck die Rache sein wird. Sie werden alle Opfer, all das unschuldige Blut, das heute verfließt und das schon verflossen wurde, abrechnen.

Das „Hatikwa"-Lied läßt ihnen keine Ruhe, es weckt, es ruft. Es verwirft sie in tiefe Düsterheit.

Die tschechische Hymne

Der heutige Transport dauert wie eine Ewigkeit. Die Stunden verwandeln sich in Jahre. Die große Bande von Banditen steht hier enttäuscht und zerbrochen. Sie haben gehofft, sie haben geglaubt, daß sie sich heute mit dem herrlichen Vergnügen befriedigen. Sie wollten sehen, wie die Masse von lausenden jungen jüdischen Opfern gepeinigt wird, wie sie sich vor Schmerz krümmt. Und sie haben hier eine singende Masse angetroffen, eine fast sorglose Masse, die dem Tod ins Gesicht hineinlacht. Wo ist die Rache? Wo ist die Strafe? Sie haben gehofft, daß sie ihren Durst nach jüdischem Blut mit dem entsetzlichen Leiden löschen werden, und am Ende steht hier die Masse kühn, ruhig und singt, singt die Lieder, die sich in strafende Ritter verwandelt haben und tief in ihre tierischen Herzen vordringen und sie nicht in Ruhe lassen. Es scheint ihnen, daß sie, die starken und mächtigen Banditen, jetzt die Angeklagten sind, und daß sich die Masse der nackten Leute an ihnen rächt - sie rächt sich mit Hilfe des Liedes.

Jetzt singen sie die Hymne des versklavten tschechoslowakischen Volkes. Sie waren die Bürger dieses Volkes. Sie haben dort sicher, ruhig gelebt, so wie alle anderen Bürger des Landes. Bis zu der Zeit, als die Banditen gekommen sind und das ganze Volk versklavt haben. Die Juden haben nichts gegen das tschechische Volk, und sie wissen, daß die Tschechen keine Schuld an ihrem Unglück, an ihrem Verderben tragen. Sie haben sich mit dem tschechischen Volk stark in seinen Leiden und Sorgen verbunden gefühlt und erwarten mit ihm die baldige Freiheit, auch wenn sie wissen, daß sie nichts mehr davon hören werden, daß sie sie auch nicht sehen werden. Sie stellen es sich aber in ihrer Phantasie vor, wie es in der nahen Zukunft im tschechischen Volk aussehen wird, das neu zum Leben erwachen wird. Sie singen die Hymne, die sich in naher Zukunft über das ganze Land ergießen wird. Das Echo des neu erwachten Lebens wird sich frei in den hohen Bergen wie auch in den tiefen Tälern ergießen. Sie schicken jetzt dem tschechischen Volk einen Gruß aus dem Grab: Die Tschechen sollen sich ermutigt zum Kampf bereitstellen.

Das Lied erinnert die Offiziere daran, es erzählt ihnen, daß alle Völker der Welt bald befreit sein werden, und unter ihnen auch die Tschechoslowakei. Überall werden die Fahnen der Befreiung für alle Völker wehen. Und was geschieht dann mit ihnen, mit den Unterdrückern und Peinigern, die so viel unschuldiges Blut aller Völker in ganz Europa vergossen haben? An dem Tag, an dem alle kleinen versklavten Völker wieder zum Leben erwachen, werden sie, der große starke Staat, versklavt, unterjocht und zerbrochen liegen. An dem Tag, an dem die Welt die Freiheit aller Menschen feiern wird - an dem Tag beginnt ihre Versklavung. An dem Tag des Friedens wird ganz Europa auf den Straßen sein, die Leute werden sich küssen und umarmen. An dem Tag werden die Verbrecher und Mörder irgendwo sitzen und in Angst und Schrecken auf den großen Tag des Gerichtes warten - auf die Rechnung, die ihnen die Welt vorlegen wird. In dem Moment, in dem die Völker auf den Trümmern zu bauen beginnen, werden sie noch mehr ihr Unglück fühlen.

Der kommende Tag der allgemeinen Freiheit verwandelt sich für sie in den Tag des großen Verderbens. Alle ruinierten und zerbrochenen Völker kommen zu ihnen und werden von ihnen fordern, daß sie alles bezahlen, weil nur sie und kein anderer das Unglück auf die Welt gebracht haben.

Ach, die bösen Lieder lassen sie nicht in Ruhe! Sie haben ihnen die heutige Freude zerstört.

Das Partisanenlied

Es kommen die letzten Busse. Es wird bald der Frauentransport zu Ende sein. Eine Frau verursacht einen kleinen „Inzident". Das junge, gut entwickelte Mädchen aus der Slowakei läßt sich nicht aus dem Auto herabnehmen. Es will nicht in den Bunker gehen, ins tödliche Gas. Es schreit, es lärmt und ruft die Frauen zum Kampf. „Erschießt mich" - bittet es die Banditen, und diese erfüllen gerne seine Bitte.

Sie haben das Mädchen aus dem Bunker auf die vom Mond beleuchtete Erde hinausgeführt, und zwei Leute mit gelben Armbinden haben ihm die Hände nach hinten gedreht. Und das sich windende, junge, frische Mädchen zuckt stark und zappelt mit allen Gliedern ihres Körpers. Auf einmal konnte man in der Nachtstille einen kurzen Knall hören. Die Bestie hat ihr mit der „kulturellen" Kugel das Leben genommen. Es fiel ein junger Baum, man hörte den dumpfen Klang, ihr dicker Körper stürzte auf die kalte Erde, der Strom von Blut begoß die Erde, und ihre Augen schauten erstarrt in die Richtung des Mondes, der ungestört seinen Spaziergang fortsetzte. - Es war hier ein Leben, und es ist nicht mehr. Noch vor einer Minute zappelte sie, sie schrie, weinte und rief auf zu Kampf und Widerstand, und nun liegt sie hier, ausgezogen, die Hände ausgebreitet, als ob sie die ganze Welt umarmen wollte.

Unten, in dem großen Bunker, singt man wieder Lieder. Sie übertönen alle ihre Angst, sie vertreiben ihren Schreck, der ihre Herzen und Seelen bändigen will. Sie singen jetzt das Partisanenlied, und das bohrt sich tief in ihre Herzen ein. Die Partisanen, das sind doch die Heldenkämpfer für die Freiheit, in deren Reihen viele Vertreter des Märtyrervolkes stehen. Und sie werden die schwere, strafende Hand in der Zukunft sein, wenn sich die zusammengebrochenen Armeen im wilden Schrecken in den Feldern und Wäldern aufhalten werden, um sich irgendwo in einem Loch, irgendwo in einem Tal im dichten Gebüsch oder unter den Bäumen zu retten. Dann werden sie aus ihren Verstecken herauskommen müssen und für alles bezahlen. Die Partisanen werden das Leid und die Qual rächen, welche sie nur ihretwegen erdulden mußten. Sie werden ihre Väter und Mütter, Schwestern und Brüder, die schuldlos ums Leben gekommen sind, mit blutiger Roheit rächen. Sie werden die Tausenden von Leben rächen, die heute sterben. Und dann, wenn der Sturm vorbei sein wird, dann werden sie von überallher kommen, aus den Gräbern auf die Erdoberfläche, und werden Formationen der Rache bilden. Sie werden Zeugen sein für die Welt, die Zeugen der grausamen, sadistischen, barbarischen Taten, mit deren Hilfe die Banditen Millionen von Menschen der ganzen Welt ums Leben gebracht haben. Die Partisanen werden die Armeen dorthin in die Felder und Wälder führen, und sie zeigen ihnen die Plätze, wo Hunderttausende von unschuldigen Opfern liegen, die lebendig im dunklen Grab begraben oder lebendig ins Feuer geworfen wurden. Für all das, für all das muß man sie rächen.

Die letzte Frau pfercht man nur mit Schwierigkeiten in den Bunker hinein. Das Schloß klappt hermetisch zu und wird verriegelt, damit keine Luft nach drinnen eindringen kann. Die Opfer sind dort wie im Faß eingepreßt. Viele ersticken schon jetzt - vor Hitze und Durst. Sie fühlen, sie wissen, daß es nicht lange dauern wird, nur noch eine Minute, nur noch einen Augenblick, und bald kommt ihr Ende. Und trotzdem: Sie singen weiter. Sie möchten jetzt alles vergessen. Sie halten sich fest an den Tönen der Loblieder. Sie möchten sich mit Hilfe dieser Lieder, dieser hohen Töne, über den kleinen Weg des Lebens tragen lassen - bis zum Tod.

Und die hohen Offiziere stehen noch und warten, sie warten bis zum letzen Atemzug. Sie möchten noch einen Akt, den letzten, den erhabensten, sehen. Sie möchten sehen, wie Tausende von Opfern wie Ähren im Sturm schwanken, und dann, wenn der letzte, der allerletzte Akkord des Lebens ausgelöscht ist - dann kommt das „schönste" Bild, wenn zweitausendfünfhundert Opfer wie gefällte Bäume fallen, einer in den anderen verflochten. Und das wird der letzte Akt ihres Lebens, ihrer Welt, sein.

Die zweite Front

Alle gehen jetzt „dorthin", zum zweiten Krematorium hinüber. Die Offiziere mit ihren Posten und auch wir. Es wird wiederum neue Frontstellung bezogen. Alles steht hier in Kriegsbereitschaft. Und jetzt sind hier noch mehr Sicherheitsvorkehrungen getroffen, weil zwar das erste Zusammenkommen mit den Opfern in Ruhe und ohne Kampf, ohne irgendwelchen Widerstand, geschah und der Sieg ohne Todesopfer erreicht wurde, in dem zweiten Kampf aber etwas passieren könnte, weil die Opfer, die jetzt bald ankommen werden, die junge, starke Männermasse ist. Es dauert nicht lange und wir hören schon das bekannte Geräusch der Autos. „Sie kommen an!", hören wir das Geschrei des „Kommandanten", d. h., alles muß bereit sein. In der Stille der Nacht hört man das letzte Manipulieren an den Ladestreifen und den Maschinengewehren für den Kampf, damit sie gut funktionierten, falls man sie für die „Arbeit" braucht.

Die sehr großen Reflektoren beleuchten wieder den toten Platz. Im Scheine ihres Lichtes und im Mondschein blitzen viele Gewehrläufe, die die „Großmacht" in ihren Händen hält, die gegen das wehrlose, unglückliche Volk Israel in den Kampf gezogen ist. Wild schauen zwischen den Bäumen und Drähten die Köpfe heraus. Im Mondschein glänzt schrecklich der „Totenkopf', der dünkelhaft den Helm der „Helden" trägt. Sie stehen hier nun wie Dämonen, wie Teufel, wie Mörder und Verbrecher, in der stillen Nacht und warten, warten mit Schreck und Hunger auf den Raub, der bald ankommt.

Die Enttäuschung

Alle waren gespannt, „wir" und auch „sie". Die Vorsteher der Macht standen in Schrecken und Angst. Sie zitterten. Die verzweifelten Männer könnten wie Helden an der Schwelle des Grabes [sich wehren und] fallen, dann könnte ein Unglück geschehen. Und wer weiß, wer dann der eine sein wird, wenn auch vielleicht nur das einzige Opfer [auf Seiten der Mörder] sein würde.

Auch wir standen dort gespannt und nahmen sie mit Herzklopfen von den Autos herab. Wir hofften, wir glaubten, daß es heute geschieht, daß heute der endgültige Tag sein würde, auf den wir schon ungeduldig gewartet hatten. Wir erwarteten, daß die verzweifelte Masse an der Schwelle des Grabes die Fahne des Kampfes entrollte, und dann würden wir mit ihnen Hand in Hand den ungleichen Kampf führen. Wir würden keine Rücksicht darauf nehmen, daß es unmöglich ist, daß wir damit die Freiheit oder das Leben erkämpfen. Es würde unsere größte Chance sein, unser düsteres Leben heldenhaft zu beenden, weil dem entsetzlich Tragischen ein Ende bereitet werden muß. Wir blieben aber enttäuscht stehen. Statt wie wilde Tiere, die sich auf sie und auf uns werfen würden, stiegen sie in der Mehrheit ruhig aus den Autos herab und schauten nervös und erschrocken auf dem großen Platz herum. Sie richteten ihren letzten Blick sehr lange auf das Gebäude - auf die große Hölle -, und mit herabhängenden Armen und mit resigniert gesenkten Köpfen gingen sie still ins Grab hinein. Alle fragten nach den Frauen, ob sie schon gekommen seien. Ihre Herzen schlugen noch für sie, sie waren mit tausenden unzerreißbaren Fäden mit ihnen verbunden. Ihr Fleisch und Blut, ihr Herz und ihre Seele waren noch in einen Organismus eingebunden. Der Vater, der Mann, der Bruder, der Bräutigam oder der Bekannte wußten überhaupt nichts davon, daß ihre Frau und ihr Kind, ihre Schwester, Braut, Freundin oder Bekannte, die Tausende von Leben, an die sie jetzt dachten und nach denen sie uns ausfragten - sie waren doch mit ihnen auf Gedeih und Verderb verbunden -, daß diese alle schon dort in einem genauso großen Gebäude lagen, im tiefen Grab, tot, ohne Bewegung, für die Ewigkeit erstarrt.

Sie wollten es uns nicht glauben, als wir ihnen die Wahrheit erzählten, daß nämlich die Fäden zu den Frauen längst abgerissen worden waren.

Ein Teil warf wild das Gepäck auf den Boden. Sie wußten, sie kannten dieses Gebäude sehr gut, das jeden Tag die Opfer zum hohen Himmel durch den Schornstein ausspeit. Andere blieben [wie] tot bestürzt stehen und pfiffen sogar Lieder und schauten verträumt zum Mond und den Sternen und gingen gleich mit einem Seufzer in den tiefen Bunker hinein. Es dauerte nicht lange, und alle standen nackt im Bunker und gingen ruhig und ohne Widerstand und ohne Kampf dem Tod entgegen.

Sie und er

Herzzerreißende Szenen spielen sich in dem Augenblick ab, als den Männern eine große Zahl von Frauen zugeführt wurde, für die man schon im Krematorium l keinen Platz gefunden hatte. Die nackten Männer liefen wild und verwirrt zu den Frauen, und jeder suchte unter ihnen seine Frau, seine Mutter, jemand sein Kind, seine Schwester oder seine Bekannte. Die wenigen „glücklichen" Männer und Frauen, die sich jetzt trafen, hielten sich fest und küßten einander leidenschaftlich. Du sahst in dem großen Saal das entsetzliche Bild, wie ein nackter Mann seine Frau umarmte, oder wie der Bruder mit seiner verschämten Schwester stand, und sie küßten sich, weinten und gingen gemeinsam „glücklich" in den Bunker hinein.

Es blieben viele Frauen einsam sitzen. Ihr Mann, Bruder oder Vater waren schon längst im Bunker. Und er dachte darüber nach, was mit seiner Frau, seinem Kind, seiner Mutter, seiner Schwester passiert sei, und wußte nicht, der Unglückliche, ob seine nackte Frau nicht in demselben Bunker stand, irgendwo unter den fremden Männern, und er suchte und forschte unter ihnen, ob er zufälligerweise nicht das geliebte Gesicht erblickte. Und so sehnsuchtsvoll liefen ihre Blicke suchend wild hin und her.

Unter der Männermasse stand eine ausgezogene Frau und suchte mit Sehnsucht, ihr Leib hob sich empor über die Männermasse und ihr Gesicht suchte noch im letzten Atemzug ihren Mann unter ihnen. Und dort am Rande, bei der Wand vom Bunker, dort stand ihr Mann und konnte nicht ruhig bleiben. Er erhob seinen Körper auf die Fußspitzen, und auch er suchte unter den anderen seine nackte Frau, die sich unter der nackten Männermasse fand. Und als er sie endlich erblickte und sein Herz wild zu klopfen begann, spannte er seine Arme nach ihr aus, und als er schon zu ihr gehen und laut ihren Namen rufen wollte - in dem Augenblick ergoß sich das Gas in den Saal, und er erstarrte und blieb so stehen, wie er war, mit den nach seiner Frau ausgebreiteten Armen, mit geöffnetem Mund und wild erstarrten Augen. Mit ihrem Namen auf den Lippen blieb sein Herz stehen, und die Seele verschwand.

Zwei Herzen schlugen dort rhythmisch und blieben, sehnsüchtig einander suchend, stehen.

"..Heil Hitler"

Sie, die „Macht" allein, sah durch das kleine Fenster in der Grabtür, wie die große Männermasse erstarrt vom tödlichen Gas niederfiel.

Sie gingen glücklich, zufrieden mit dem endgültigen Sieg in der Tasche, aus dem Grab heraus. Sie konnten jetzt schon ruhig und sicher nach Hause fahren. Der große Feind ihres Volkes, ihres Landes war jetzt vernichtet, abgewischt. Jetzt wird wieder alles möglich sein. Der „Führer", der große Gott, sagte doch: Jeder tote Jude - ein weiterer Schritt zum Sieg. Und hier wurden auf einmal in einigen Stunden fünftausend Juden ums Leben gebracht. Ein solcher Sieg, ein solcher Gewinn, und ohne ein einziges Opfer, ohne den geringsten Verlust. Wer anders als sie, die klugen Offiziere, wären einer solchen ruhmvollen Tat fähig?

Sie segneten sich mit emporgereckter Hand und setzten sich mit dem „heiligen" Gruß zufrieden in die Autos.

[...]

Die Nachricht von dem großen Sieg und dem großen Gewinn, der sich heute ereignet hatte, erreicht auch ihn, „den Führer und Gott". „Heil Hitler!"

Auf dem toten Platz

Es wurde auf dem Platz alles still. Keine Posten, keine Autos mit Granaten, keine Reflektoren. Auf einmal war alles verschwunden. Totenstille begleitete den Eintritt in die Gotteswelt, als ob sich der Tod von dort, aus der tiefen Hölle, in diese Welt im stillen Lob hineindrängen und die ganze Welt in Totenschlaf einwiegen wollte. Der Mond setzte ruhig seinen Spaziergang fort. Die Sterne funkelten zauberhaft am tiefen blauen Himmel. Es war eine ruhige, stille Nacht, die wie eine Ewigkeit dauerte, als ob sich heute nichts auf der Welt ereignen würde. Die Nacht, der Mond, der Himmel und die Sterne verschlangen tief in sich das Geheimnis, was der Teufel in der Nacht getan hatte, und sie zeigten der Welt kein Zeichen, kein Symbol jener Brutalität.

Man sah aber im Mondschein die Schatten der kleinen Haufen auf dem toten Platz. Es lagen dort die abgeworfenen Rucksäcke - die Zeugen ehemaligen Lebens. Silhouetten menschlicher Gestalten schleiften irgendeine schwere Last über den Boden, und sie gelangten bald mit der Leiche an die geöffnete Tür. Man konnte in der Nachtstille das Schließen der Tür hören. Sie schlössen die unglücklichen Brüder ein, die jetzt bald mit der Arbeit an den Toten beginnen würden. In der Nachtstille hörte man Schritte. Der Wächter ging um den Friedhof herum und bewachte die unglücklichen Brüder, die nun unten in der Hölle arbeiten mußten bei ihren toten Schwestern und toten Brüdern. [...]

Im Bunker

Mit zitternden Händen schrauben nun die Brüder die Schrauben ab und beseitigen die vier Riegel. Zwei Türen von beiden großen Gräbern werden nun geöffnet. Die Öffnung bringt viel Leid, weil der grausame Tod seinen Sieg feiert. [...]

Tausende von sprudelnden, rauschenden, singenden Leben liegen nun hier in tödlicher Erstarrung. Man hört keinen Ton, kein Wort, ihre Münder wurden für immer zum Verstummen gebracht. Ihre Blicke sind starr stehengeblieben, ihre Körper liegen hier ohne Bewegung. In der bestürzenden Totenstille kann man ein leises, kaum hörbares Geräusch hören. Es gießen sich aus den toten Körpern Flüssigkeiten aus den verschiedenen Öffnungen aus. Das ist der einzige Bewegungsmoment in dieser großen Welt der Toten.

[...] Wir sehen die nackte Welt. Sie liegen, wie sie gefallen sind, zusammengepfercht, ineinander verflochten, als ob sie in einen Knäuel verwickelt wären, als ob der Teufel mit ihnen speziell im Augenblick des Todes ein Teufelsspiel hätte machen wollen, indem er ihnen solche Posen verordnete. Und dort umarmen sich wieder zwei und sitzen dicht an der Wand. Hier guckt wieder nur ein Stück vom Rücken hervor, und Kopf und Beine sind in einen anderen Körper hineingedrückt. Dort siehst du nur eine Hand und ein Bein in die Luft ausgestreckt, und der ganze Körper liegt in der tiefen, nackten See. Du siehst nur die Teile menschlicher Körper auf der Oberfläche der nackten Welt.

In dieser großen nackten See schwimmen viele Köpfe. Sie halten sich auf der Oberfläche der nackten Wellen. Es scheint, als ob sie in der großen tiefen See schwimmen wollten, und nur der Kopf guckt aus dem tiefen nackten Abgrund.

Die schwarzen, blonden oder braunen Köpfe bilden die einzigen Teile, die aus der allgemeinen Nacktheit herausragen.

Die Vorbereitung auf die Hölle

Man muß sich das empfindliche Herz herausreißen, jedes Mitleidsgefühl in ihm ersticken. Man muß all das grausame Leid überschreien, das sich jetzt wie ein Sturm in alle Glieder des Körpers ergießt. Man muß sich in einen Automaten verwandeln, der nichts sieht, der nichts fühlt und nichts versteht.

Füße und Hände sind für die Arbeit vorbereitet. Die Gruppe von Freunden steht hier, jedem wurde seine Arbeit zugeteilt. Es ist nötig, die Körper fortzuschleppen, aus dem Knäuel herauszureißen: Einer zieht den Fuß, ein anderer die Hand, wie es gerade kommt. Es scheint, als ob mit dem Reißen nur Stücke aus den Körpern blieben. Sie schleppen dann den Körper auf dem schmutzigen, kalten Zementboden und wischen mit dem schönen, sauberen Alabasterkörper den ganzen Dreck wie mit dem Besen weg, der ganze Müll, der ihm im Wege ist. Den verschmutzten Körper wenden sie mit dem Gesicht nach oben, und nun guckt auf sie ein erstarrtes Augenpaar, als ob es fragen wollte: Was wirst Du mit mir machen, mein Bruder? Erkennst Du etwa Deine alte Bekannte nicht, die Du vor einer Weile ins Grab geführt hast?

Drei Menschen warten dort auf sie. Einer schiebt ihr die kalten Zangen in ihren schönen Mund hinein und sucht nach goldenen Zähnen. Wenn er einen findet, reißt er ihn mit dem Fleisch heraus. Der zweite schneidet ihr die goldenen Haare - er nimmt ihr die Frauenkrone. Und der dritte reißt ihr schnell die Ohrringe ab, und oft spritzt Blut heraus. Und wenn er die Ohrringe nicht leicht abmachen kann, zwickt er sie mit Zangen ab.

Und jetzt werden alle zum Aufzug gebracht. Immer zwei Menschen werfen sie wie Holzstücke in den Aufzug hinein, und wenn ihre Zahl sieben bis acht erreicht hat, geben sie mit dem Stock ein Zeichen, und der Aufzug fährt nach oben.

Im Herzen der Hölle

Es stehen dort oben beim Aufzug vier Menschen, zwei an beiden Seiten, und schleppen die Körper ins Reservenzimmer. Sie sammeln sie, immer zu zweit für jedes einzelne Maul der Öfen. Kleine Kinder liegen beiseite auf einem großen Haufen - sie werden immer auf die zwei größeren draufgeworfen. Sie werden auf das eiserne Brett von Tahara gelegt, und dann öffnet sich das Höllenmaul, und man schiebt das Brett hinein. Das höllische Feuer breitet seine Zungen wie geöffnete Arme aus und zieht die Körper wie einen Schatz schnell herein. Die ersten Zungen ergreifen die Haare. Die Haut verwandelt sich in Blasen, die bald wieder zusammenschrumpfen. Die Hände und Füße beginnen sich zu bewegen - es wurden die Adern bloßgelegt, und sie bewegen sich mit den Körpergliedern. Der ganze Körper bläst sich stark auf, die Haut schrumpft zusammen, und das Fett fließt aus. Du hörst das Zischen des brennenden Feuers. Du siehst jetzt keinen Körper mehr, nur den Saal des höllischen Feuers, das etwas hält. Bald schrumpft der Bauch zusammen. Die Eingeweide und die Därme fließen aus ihm heraus, nach einer Weile bleibt nichts von ihnen übrig. Der Kopf brennt am längsten. Aus den Augen flammt eine blaue Flamme - es brennen gerade die Augen tief bis zum Gehirn. Und die Zunge im Mund brennt jetzt noch. Die ganze Prozedur dauert zwanzig Minuten - und der Körper verwandelt sich in Asche.

Und du stehst verblüfft und schaust darauf. Man legt immer zwei Leichen auf einmal hinein. Zwei Menschen, zwei Welten, sie hatten in der Menschheit ihren Platz, sie lebten und existierten, sie arbeiteten und schafften etwas. Sie leisteten etwas für die Welt und für sich, sie legten einen Ziegel zu dem großen Gebäude, sie woben einen Faden für die Welt und für die Zukunft - und bald, in zwanzig Minuten, bleibt kein Andenken an sie.

[...]

Der Aufzug fährt wieder hinauf, er schleppt unzählige Opfer. Wie in einem riesigen Schlachthof werden hier die Haufen von Leuten gestoßen, und sie warten, bis sie an der Reihe sind, bis man sich ihrer annimmt.

Dreißig höllische Mäuler lodern jetzt Flammen in den zwei großen Gebäuden und verschlingen unzählige Opfer. Es wird nicht lange dauern, und die fünftausend Menschen, fünftausend Welten, nehmen ein Ende in den Flammen.

[...]

Wird die große, freie Welt denn die riesige Flamme irgendwann bemerken? Wirst Du, Mensch, irgendwann am Abend an einem Ort stehenbleiben und zum tiefen, blauen Himmel emporblicken, der von den Flammen erleuchtet ist - Du, freier Mensch, Du solltest wissen, daß es das Feuer aus der Hölle ist, das unaufhörlich die Menschen verbrennt. Vielleicht verbrennt sich Dein Herz einmal an diesem Feuer und Du kommst mit Deinen eiskalten Händen, die Flamme zu löschen. Und vielleicht wird Dein Herz mit Mut und Kühnheit beflügelt, und dann wirst Du die Opfer für das Feuer, für die Hölle, austauschen: Das höllische Feuer soll ewig brennen und in seinen Flammen die verbrennen, die es gelegt haben!

Aus dem Jiddischen übersetzt von Kateřina Čapková

Quellen

  • 407
    407. Katerina Capkova , Das Zeugnis des Salmen Gradowski , in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1999 Academia-Verlag, , Prag , S. 105ff.

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