Reichsbahn

Reichsbahn und Massenmord

Die deutsche Eisenbahnverwaltung spielte bei der Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“ eine entscheidende Rolle. Im Jahr 1942 beschäftigte die dem Reichsverkehrsministerium unterstellte Reichsbahn eine halbe Million Beamte und 900.000 andere Angestellte. Sie diente sowohl dem Militär als auch der Zivilbevölkerung.

Im Mai 1942 wurde Albert Ganzenmüller, ein junger Technokrat, der Albert Speer nahe stand, zum Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium und Leiter der Reichsbahn ernannt. Er war für die gesamte Organisation zuständig.

Das Eisenbahnnetz bestand aus zwei Bereichen: Das Gebiet des Reiches, in das Österreich und andere vom Reich annektierte Gebiete eingegliedert waren, und die besetzten Länder. In letzteren gab es drei verschiedene Bahnsysteme: das unter der direkten Kontrolle der Reichsbahn, die „selbständigen“ Eisenbahnen und die dem Chef des Transportwesens der Wehrmacht unterstehenden Bahnbehörden. Im Reich war die Reichsbahn in drei Generalbetriebsleitungen unterteilt, die für jeweils ein bestimmtes Gebiet zuständig waren: Ost, West und Süd. Von der Generalbetriebsleitung Ost mit Sitz in Berlin fuhren die meisten Züge an die Ostfront – und zu den Vernichtungslagern. Die Juden wurden in Güterwagen in die Lager deportiert. Die Reichsbahn verlangte für den Transport jedoch den Tarif für eine Fahrkarte Dritter Klasse, Kinder zwischen vier und zehn Jahren zahlten die Hälfte, Kinder unter vier Jahren fuhren kostenlos. Auch „organisierte“ Gruppen von 400 Personen fuhren zum halben Preis. Eine komplizierte Organisation allein jedoch konnte nicht sicherstellen, daß alle geplanten Deportationen pünktlich durchgeführt werden konnten, zumal die Streitkräfte offiziell Vorrang hatten. Deswegen gab es für den > Transport von Juden eine eigene Dienststelle. Für die Fahrten und Organisation der Transporte war SS-Hauptsturmführer Franz Novak verantwortlich, der in Adolf Eichmanns Büro (Referat IV B 4 a des Reichssicherheitshauptamts – RSHA -) arbeitete. Bei der Bahnverwaltung war gewöhnlich der Beamte Otto Stange für die Bereitstellung von Zügen für die Lagertransporte verantwortlich. Diese Züge wurden als „Sonderzüge“ bezeichnet und bildeten einen Teil der von der Reichsbahn angebotenen „Fahrgastleistungen“. Auch wenn der Ausgangspunkt in einem besetzten Land lag, stellte die Reichsbahn aus dem dortigen Kontingent Züge bereit. Die Sektion IV B 4a hatte Zweigstellen in Paris, Bratislava und Saloniki, verfügte aber im Generalgouvernement, in den okkupierten Gebieten und in der Sowjetunion über keine ständig besetzten Büros. In diesen Gebieten waren es die Befehlshaber der Sicherheitspolizei, die im Rahmen des RSHA die Fahrten anordneten und die Züge für die Transporte vorbereiteten. In der Prioritätenliste, die angesichts der durch den Krieg verursachten Engpässe aufgestellt werden musste, räumte man den Transporten von Juden in die Vernichtungslager einen verhältnismäßig hohen Stellenwert ein.

Im Juli 1942 wurde die Bahnstrecke, die zum Vernichtungslager Sobibor führte, wegen Reparaturarbeiten geschlossen. Gleichzeitig war eine Deportation aus Warschau geplant, bei der 300.000 Juden zu den Gaskammern Treblinkas deportiert werden sollten. Am 16. Juli 1942 wandte sich der SS-Obergruppenführer Otto Wolff um Hilfe an Ganzenmüller. Dieser informierte ihn, daß vom 22. Juli an täglich ein Zug für 5.000 Juden zur Verfügung stünde, um sie in das neu errichtete Vernichtungslager Treblinka zu bringen. Die Juden wurden zwar als Menschen geführt, aber als Vieh verladen. Um Lokomotiven einzusparen und die Häufigkeit von Fahrten zu verringern, wurde die Belegungszahl pro Waggon bald verdoppelt. In den Waggons betrug der Platz pro Person bald nur noch 0,2 m². Durch das enorme Gewicht, das die Züge trugen, verringerte sich die Durchschnittsgeschwindigkeit der Güterzüge von 65 Km/h auf 50 Km/h. Die „Judenzüge“ mussten oftmals Stunden oder Tage auf Abstellgleisen warten.

In den Beschreibungen der Überlebenden erscheint die Bahnfahrt in die Vernichtungslager wie ein Alptraum. In den dichtbesetzten und verschlossenen Wagen gab es weder Luft noch Essen oder Wasser. In den meisten Fällen wurde auch kein Essen oder Wasser an die Gefangenen ausgeteilt, wenn sie unterwegs stundenlang auf den Bahnhöfen warten mussten. Die kleinen Fenster der Güterwagen waren verplombt oder mit Stacheldraht verspannt, um eine Flucht zu verhindern. Bewaffnete Begleitmannschaften erschossen jeden, der versuchte, aus dem fahrenden Zug zu springen. Im Sommer war es in den Wagen unerträglich heiß, im Winter eiskalt. Für die Notdurft stand in der Regel nur ein kleiner Eimer zur Verfügung, der für die vielen Menschen nicht ausreichte und überfloss. Es stank erbärmlich. Viele der Deportierten, vor allem die alten Menschen und die ganz jungen, starben, bevor der Zug seine letzte Station erreicht hatte. Von Oktober 1941 bis Oktober 1944 transportierte die Reichsbahn Millionen von Menschen in den Tod. Kein einziger Juden wurde mangels Transportkapazität verschont. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die Mehrzahl der Bahnbeamten, die die Züge in die Lager geleitet haben, über das Schicksal der Deportierten Bescheid wussten. Die Existenz von Vernichtungslagern in der Nähe von Bahnlinien war den Bahnbediensteten bekannt. Dies wurde in Nachkriegsvernehmungen zugegeben.

Nach Kriegsende wurden Angestellte verschiedener Dienststellen der Reichsbahn, die mit den Transporten im Zuge der „Endlösung“ befasst gewesen waren, vor Gericht gestellt. Ganzenmüller wurde 1945 eine Zeit lang von der amerikanischen Armee gefangengehalten und dann wieder freigelassen. Ein deutsches Verfahren gegen ihn wurde 1973 aufgrund von Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Er bezog eine hohe Pension. Andere hohe Beamte der Reichsbahn, die an der Organisation der „Sonderzüge“ in die Vernichtungslager beteiligt gewesen waren, wurden nach Kriegsende bei der Bundesbahn in wichtige Positionen befördert.

Weichenstellung
aus: "German-Foreign-Policy" 31.03.2006 BONN/BERLIN/OSWIECIM

In einem Schreiben an sämtliche Abgeordnete des Deutschen Bundestags bittet der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland um politische Interventionen gegen die Deutsche Bahn AG. Der Vorstand des Unternehmens weigert sich seit mehr als einem Jahr, auf den deutschen Publikumsbahnhöfen eine Ausstellung über elftausend ermordete jüdische Kinder zu zeigen. Die Kinder waren auf dem Schiennennetz des Bahn-Vorgängers ("Deutsche Reichsbahn") in die Vernichtungslager deportiert worden. Als "nicht nachvollziehbar" und "(e)benso wenig akzeptabel" bezeichnet es der Zentralrat, dass die in Frankreich bereitstehende Ausstellung "angeblich aus finanziellen und sicherheitstechnischen Gründen" auf deutschen Bahnhöfen nicht zum Einsatz kommen darf. In einem weiteren Schreiben, das in diesen Tagen an den Bahn-Vorstandschef Mehdorn ging, äußert der Bundesverkehrsminister die Erwartung, die Mehdorn-Gruppe möge ihren Widerstand aufgeben. Zuvor hatte die Initiative "Elftausend Kinder" das Ministerium informiert und an dessen politische Verantwortung erinnert. Daraufhin ist es auch im Bundestag zu heftiger Kritik am Bahn-Vorstand gekommen. Der parlamentarische Druck sorgt für Spannungen in der Berliner Bahn-Zentrale.

Quellen

  • 721
    721. Enzyklopädie des Holocaust Bd. III Piper, , München/Zürich 1998 , S. 1199ff.
  • 1092
    1092. http://www.german-foreign-policy.com/de/extra/11000kinder/berichte.php

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