Mikova, Lisa

Lisa Mikova wurde 1922 in Prag geboren. Am 30. Januar 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, am 4. Oktober 1944 weiter nach Auschwitz (Transport En zusammen mit 1.500 Personen). Bereits wenige Tage später wurde sie für einen Arbeitseinsatz selektiert. Mit einem Transport jüdischer Frauen, zu dem auch Helga Weissová und ihre Mutter gehörten, kam sie nach Freiberg in Sachsen, wo sie in einem Flugzeugwerk Zwangsarbeit leisten mußte. Dann wurde sie weiter nach Mauthausen deportiert, wo sie am 28. April 1945 ankamen. Hier wurde sie am 5. Mai 1945 durch amerikanische Truppen befreit. Lisa Mikova lebt heute in Prag. Sie war als Buchhändlerin tätig.

Aus dem von Hans Joachim Wolter, Wittingen, 1999 erstellten Begleitheft zu einer Diaserie „Zeitzeugen berichten“. Niedergeschrieben nach Tonbandaufzeichnung im Einverständnis mit Frau Mikova:

Es ist nicht einfach, in die Vergangenheit zurückzukehren, auch, wenn sie mich eigentlich nie ganz verlassen und immer wieder auf irgendeine Art und Weise mein Nachkriegsleben beeinflusst hat.

Ich bin jetzt 74 Jahre alt, in Prag geboren und lebte hier bis zu meiner Deportation im Januar 1942 nach Theresienstadt.

Meine Kindheit war unbeschwert, meine Familie führte ein harmonisches Leben. Ich wuchs, wie so viele in unserem Lande, zweisprachig auf. Meine Mutter stammte aus Südböhmen, nahe der österreichischen Grenze, mein Vater aus einem Dorf bei Kladno in der Nähe von Prag, er hatte noch sechs Geschwister. Zwischen unseren Verwandten war immer ein sehr enger Kontakt.

Meine Eltern legten größten Wert auf die Kenntnis von fremden Sprachen und mit acht Jahren sprach ich neben Tschechisch und Deutsch auch sehr gut Französisch. Ich lernte leicht und gut. Nach der 5. Klasse im Gymnasium wechselte ich in eine englische Schule mit intensiven Sprachunterricht. Das war 1938 und das nationalsozialistische Deutschland stand bereits drohend an unserer Grenze, der Großteil der deutschen Bevölkerung unseres Landes folgte Konrad Henlein und wollte „heim ins Reich“. Obwohl ich an der Hochschule studieren wollte, nötigte die Situation, in der wir uns damals befanden, mich, mir eher praktische Kenntnisse anzueignen, da wir an eine Emigration dachten. So lernte ich auch noch Spanisch, und da ich sehr gut zeichnete, besuchte ich eine Fachschule für Modezeichnen, Entwerfen und Reklame.

Der 15. März 1939 änderte alles. Gesetze, Verbote und Einschränkungen bestimmten unser Leben und die Grenzen waren geschlossen. Ein Treuhänder aus Stuttgart erschien eines Tages in unserem Geschäft und machte uns klar, daß der kleinste Versuch eines Widerstandes als Sabotage mit den entsprechenden Folgen gewertet würde. Mein Vater wurde im eigenen Betrieb Angestellter und bekam ein Mindestgehalt. Wir wollten emigrieren. Niemand wollte uns.

Als der Treuhänder meinen Vater nicht mehr brauchte, wurden wir in den nächsten Transport nach Theresienstadt eingereiht. Inzwischen waren schon fünf Transporte nach Łódź und einige nach Theresienstadt gefahren. Es war ein ständiges Abschiednehmen von Verwandten und Freunden.

An meinem 20. Geburtstag kamen wir in Theresienstadt an. Die Männer wurden von den Frauen separiert und mein schwerkranker Vater kam in eine andere Kaserne. Ich blieb bei meiner Mutter. Wir waren zuerst in der „Hamburger“ (Kaserne) untergebracht. Zu der Zeit wohnte in Theresienstadt noch die normale Bevölkerung. Aus den Kasernen (der ehemaligen Garnison), in denen wir untergebracht waren, durften wir nicht hinaus, es bestand Ausgangsverbot, später gab es Passierscheine.

Wir schliefen auf Strohsäcken oder Matratzen auf der Erde. Bis zu 20 in einem kleinen Raum, Waschbecken und Toiletten waren auf den eisigen Gängen.

Die deutsche Kommandantur (Gestapo und SS) gaben ihre Weisungen an den Ältestenrat, bewacht wurden wir von tschechischen Gendarmen.

Wer konnte, meldete sich zur Arbeit. Die Arbeitskolonnen gingen mit Bewachung in andere Kasernen und so gelang es den Frauen, zu ihren Männern zu kommen und umgekehrt. Wir waren in einem ständigen Schockzustand. Bald erfuhren wir, daß im Dezember 1941 acht Männer wegen kleiner Vergehen gehenkt wurden, im März folgten weitere.

Ich hatte Glück und kam bald als Zeichnerin ins Technische Büro, wo ich als 20-jährige Frau auch meinen zukünftigen Mann kennenlernte.

Ich heiratete. Das war eigentlich eine rein administrative Angelegenheit: Mein Name wurde auf der Karteikarte meines Mannes eingetragen, damit wir im Falle eines Transportes gemeinsam nach Osten weiterfahren konnten, auch konnte ich meinen Namen wechseln. Mit meiner Schwiegermutter waren wir jetzt fünf Familienmitglieder. (Mein Schwager war vom Volksgerichtshof in Dresden zu Einzelhaft im Zuchthaus Dreibergen verurteilt und wurde am 4. April 1945 im KZ Dachau erschossen).

Mein Mann war im Rahmen des Aufbaukommandos AK 1 mit 160 anderen Männern (Ingenieuren, Ärzten, Fachleuten) nach Theresienstadt gekommen und genoss dadurch einen besonderen Schutz. Für diese Männer gab es individuelle Privilegien. Daher durften wir auch nach unserer Heirat in einem Dachzimmer in einem Haus zusammenwohnen, sonst war das nicht möglich.

Zunächst arbeiteten wir beide im Technischen Büro, wo viele bekannte Graphiker und Maler tätig waren. Das war eigentlich eine Camouflage (Tarnung), so konnten sie dort malen und zeichnen. Ihre zum Teil geretteten Werke kann man heute im Museum in Theresienstadt oder im Jüdischen Museum in Prag sehen. Sie und noch einige andere Maler kamen bei einer Sonderaktion in die Kleine Festung und überlebten nicht.

Ich bekam die Stadtpläne zum Kolorieren und zur Beschreibung, jedes Mal andere, mir war das unverständlich. Erst nach dem Krieg sagte mir mein Mann, daß diese Pläne für die illegale Organisation, der auch er angehörte, bestimmt waren.

Nach einem Jahr begann ich in der Landwirtschaft zu arbeiten, auf den Gemüsefeldern der SS.

Nachdem die Zivilbevölkerung evakuiert worden war, konnten wir uns innerhalb der Stadt Theresienstadt frei bewegen. Am 6. September 1943 ging ein großer Transport, in dem sich auch meine Eltern befanden, nach Osten, Bestimmungsort Auschwitz-Birkenau. Erst viel später erfuhr ich, daß sie im Tschechischen Familienlager waren, welches in der Nacht vom 7./8. März 1944 komplett ins Gas ging, mehr als 2.700 Menschen.

> Transporte waren ein ständiges Trauma. Trotzdem versuchten wir, unserem Leben einen Sinn zu geben. Es kling fast unglaublich, aber wir hörten Musik, sogar „Die verkaufte Braut“ und Verdis „Requiem“ wurden einstudiert. Die Künstler gaben ihr Bestes. Selbst unter diesen Umständen wurde komponiert, geschrieben, Theaterstücke wurden aufgeführt und es wurde gemalt. Die Werke konnte man retten, seltener aber die Autoren und Komponisten. Ihre Werke spielen heute die Orchester auf der ganzen Welt.

In meiner Theresienstädter Zeit betreute ich ein Waisenkind aus Paderborn, zu dem ich noch heute Kontakt halte. Nach der Befreiung des Ghettos wurden die wenigen überlebenden Kinder nach Großbritannien und von dort später nach Israel gebracht.

Für das in Theresienstadt gültige Ghettogeld konnte kaum etwas gekauft werden. Es war nur aus propagandistischen Gründen eingeführt worden.

Am 28. September 1944 verließ ein außergewöhnlicher Transport Theresienstadt. 5.000 Männer im arbeitsfähigen Alter, darunter auch mein Mann. Er hatte in einer Widerstandsgruppe mitgearbeitet und wurde deswegen als Strafmaßnahme in den Osten deportiert. Ich blieb allein zurück. Zwei Tage später konnten sich die Frauen „freiwillig“ melden und ihren Männern nachfahren. So wie viele andere meldete ich mich auch und am 1. Oktober 1944 fuhren wir in dieselbe Richtung wie unsere Männer, diesmal nicht im Viehwagen. Auf der Toilette stand: „Achtung Gas“.

In der Nacht kamen wir in Auschwitz an. Geschrei, Schläge, Kommandos, Bemerkungen, die wir nicht verstanden. Ein Schock, ein Albtraum: In kurzer Zeit verloren wir unsere Identität. Wir wurden in Baracken getrieben und hatten nur die eine Angst, uns gegenseitig zu verlieren. Wir hatten Mühe, uns - kahlgeschoren und wie Gespenster aussehend - zu erkennen.

Ich hatte nach ungefähr zwei Wochen – inzwischen hatte ich jedes Maß für die Zeit verloren - wieder einmal Glück. Meine Cousine, meine Freundinnen und ich wurden in einen Arbeitstransport eingereiht. Es ging zurück in dieselbe Richtung, aus der wir gekommen waren. Nach einer Nacht, einem Tag und einer zweiten Nacht hielt der Zug in Freiberg. Es war der 14. Oktober 1944.

Zuerst kamen wir in Quarantäne. Wir wohnten in der Fabrik, die Schlafräume waren warm, aber voller Wanzen. Dann begann die schwere Arbeit, zwölf Stunden lang, abwechselnd Tages- und Nachtschicht. Ich nietete mit meiner schwangeren Cousine Flugzeugflügel.

Unser Meister war wortkarg. Manchmal sagte er „Scheiße“. Ich weiß nicht, ob er damit die Qualität unserer Arbeit oder die allgemeine Lage meinte, er war nicht mehr der Jüngste. Ich hatte am Fuß eine schwere Phlegmone (Bindegewebsentzündung), die ständig eiterte. Papierfetzen von Zementsäcken waren mein Verbandsmaterial. Ich hatte große Schmerzen, besonders bei Kälte, und wir gingen immer barfuss. Es war ein Wunder, daß der Fuß heilte, die Narbe habe ich noch heute.

In der Fabrik arbeiteten auch Fremdarbeiter, Russen, Franzosen und Belgier.

Sie wohnten von uns getrennt, trotzdem sickerten manchmal Nachrichten durch. Ihre Situation war ungleich besser als unsere. Die Sorge um unsere Männer und Eltern verfolgte uns ständig.

Nach Weihnachten bekamen wir Strümpfe aus der Fabrik in die außerhalb der Stadt gelegenen kalten und nassen Baracken. Im Februar erlebten wir die Bombenangriffe auf Dresden. Unsere Meister und Aufseher benahmen sich nicht sehr heldenhaft. Ich jubelte innerlich: Endlich hatten diese Übermenschen einmal Angst. Wir wurden in einen Fabriksaal eingesperrt, hatten aber keine Angst. In der Nacht war es ganz hell und der Wind brachte Brandgeruch. Sicher traf es viele unschuldige Menschen, aber was hatten wir verschuldet ?

Im März gab es anscheinend Probleme, die fertigen Flügel wurden nicht abtransportiert. Es kursierten verschiedene Gerüchte. Die Meister waren nervös, unsere Brotrationen wurden noch kleiner. Wir waren noch hungriger als sonst, sprachen viel vom Essen und tauschten Kochrezepte aus. Eines Tages gingen wir nicht mehr zur Arbeit. Wir wussten, daß wahrscheinlich das Kriegsende nahte, hatten aber keine Ahnung, was mit uns geschehen würde.

Dann kam ein plötzlicher Aufbruch. Am 13. oder 14. April 1945 ging es wieder zum Bahnhof. Wir wurden in offene Waggons verladen und fuhren ins Protektorat in Richtung Westen, vorbei an Bahnhofsschildern mit vertrauten Namen. Die Nächte waren kalt, manchmal schneite oder regnete es. Zu Essen bekamen wir nur manchmal. Ähnlichen Transporten begegneten wir auf der Strecke immer wieder. Dann hielten wir lange Zeit und wurden in geschlossene Wagen umgeladen. Die Leute aus dem Ort brachten uns Essen.

Wir sollten in unser Stammlager Flossenbürg. Dem tapferen Stationsvorsteher verdanken wir, daß der Transport trotz der Drohungen mit dem Revolver aufgehalten wurde. Wir fuhren weiter in Richtung Budweis. Niemand wusste, was in den Nachbarwagen geschah. Einmal am Tag wurde der Wagen mit dem Kommando „Tote raus“ geöffnet. Wir merkten, daß der Zug die Richtung änderte, und dann standen wir im Bahnhof von Mauthausen. Es war der 29. April 1945.

Halb verhungert schleppten wir uns durch den Ort. An einem Brunnenbecken wollten wir trinken, aber die Einheimischen jagten uns mit Schimpf weg und warfen mit Steinen nach uns. Im Lager erfuhren wir sehr schnell, daß die Gaskammern bereits außer Betrieb waren. Ungarinnen, die einige Tage früher gekommen waren, hatten darin noch den Tod gefunden.

Am 5. Mai wurden wir von der US-Army befreit, am gleichen Tag begann in Prag der Aufstand. Tschechische Häftlinge bewachten uns, im Lager wurde geschossen, mit Kapos und Verrätern abgerechnet. Ich fand einen Freund meines Mannes, er lag in Agonie und wiederholte ständig seinen Namen, dann starb er wie noch so viele andere nach der Befreiung. Wir siedelten in die SS-Baracken über und nähten uns aus den Bettbezügen und Decken Blusen und Röcke. Am 18. Mai fuhren wir mit Bussen, begleitet von amerikanischen Soldaten, nach Budweis, wo wir mit Jubel empfangen wurden.

Mit einem Sonderzug, wir waren fast 1.500 Personen, fuhren wir nach Prag. Viele standen verlassen und hilflos auf dem Bahnsteig. Ich ging zu Verwandten (eine Mischehe) und erfuhr dort, daß sich mein Mann aus dem KZ Ebensee gemeldet hatte. Dann klappte ich zusammen.

Er kehrte dann zwei Tage später zurück. Bei ihm war es wirklich in allerletzter Minute. Er wog noch 42 Kg und hatte eine schlimme Wunde auf dem Kopf, die Folge eines Wutausbruches eines SS-Mannes.

Der Anfang eines neuen Lebens war nicht einfach. Der Verlust fast aller Verwandter, hauptsächlich der nächsten, war ein unvorstellbarer Schmerz.

Wir erlebten Freude, aber auch große Enttäuschungen. Nicht jeder freute sich über unsere Rückkehr. Mein Mann, der acht Jahre älter als ich und Diplom-Ingenieur war, begann als Architekt an der Technischen Hochschule zu arbeiten.

Ich war nicht fähig, mein Studium fortzusetzen und unterrichtete an der Schule für Modezeichnen, an der ich selbst studiert hatte.

1947 wurde unser Sohn geboren und 1950 begann ich im Fremdsprachenbuchhandel wieder zu arbeiten und blieb in diesem Beruf bis zu meiner Rente im Jahre 1973.

Quellen

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    574. Recherche Jürgen Winkel
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    575. Hans Joachim Wolter , Begleitheft zur Diaserie Zeitzeugen berichten Wittingen 1999, , Abschrift nach Tonbandgespräch. Veröffentlichung mit Einwilligung von Jan Jecha.

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