Sommer, Alice

Alice Sommer, geb. Herz, kann sich noch gut an den eisigen Winter 1941 in Prag erinnern, als sie sich von ihrer 72jährigen Mutter verabschiedete, die, mit einem armseligen Rucksack behangen, aus dem von Deutschen besetzten Prag abtransportiert wurde. Niemand wusste wohin. Alice sah ihre Mutter nie wieder.

Ihre Mutter hatte noch mit Gustav Mahler gespielt, wenn dieser ihre Großeltern besucht hatte. Sie hatte oftmals Kafka empfangen und war mit ihm und den Töchtern durch die Prager Altstadt gebummelt. Im Jahr 1941 ist Alice Sommer längst eine gefeierte Pianistin. Sie hatte, bis die Nazis jüdischen Künstlern Auftritte untersagten, überall im Lande Konzerte gegeben und war im Rundfunk aufgetreten. Max Brod, der wortgewaltige Kritiker, hatte sie so manches Mal mit Lob bedacht. Sie stürzt sich voller Trauer und Verzweiflung in die Einstudierung der 24 Etüden von Frederic Chopin. Im Sommer 1943, da ist sie 40 Jahre alt, müssen auch die Sommers in Prag ihre Sachen packen. Sie berichtet von dem letzten Abend in Prag. Da kamen plötzlich die Nachbarn herein und nahmen alles aus der Wohnung, was sie für wertvoll erachteten, nahmen Bilder von der Wand, die Teppiche vom Boden. „Für sie waren wir schon tot“.

Aber von der Etage unter ihnen kommt eine Familie Herrmann, er deutscher Offizier, und sie verabschieden sich: „Wir wissen nicht, was wir sagen sollen. Hoffentlich kommen Sie zurück.“ „Das waren Menschen, wunderbar“, sagt Alice Sommer später. In Theresienstadt werden die Sommers getrennt, Mutter und Sohn Rafael kommen auf dem Boden einer Kaserne unter, der Vater muss in eine Männerunterkunft. Sie treffen sich bei kulturellen Veranstaltungen, die es in diesem Vorzeigeobjekt der Nazis gibt. Der musikalisch aufgeweckte Rafael übernimmt die Rolle des „Spatz“ in der Kinderoper Brundibár und er singt auch im Chor. Die Mutter tut alles, um ihrem Sohn das Lagerleben zu erleichtern. „Inmitten der Hölle“, erinnert sich später der erwachsene Sohn,"hat meine Mutter für mich einen Garten Eden geschaffen“. Auch Alice Sommer beteiligt sich am kulturellen Leben, gibt Konzerte, spielt am liebsten Chopin und Schubert.

Am 9. Oktober 1944 wird Alices Mann Leopold Sommer deportiert. Er stirbt in Dachau an Flecktyphus. Ein Freund schickt später seinen blechernen Esslöffel. Im Mai 1945 werden Alice Sommer und ihr Sohn in Theresienstadt befreit. Sie ist 42 Jahre alt.

Quellen

  • 878
    878. Der Spiegel Nr. 52/2003

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