1. Januar 1919 – 16. Oktober 1944
Wurde in Varnsdorf an der deutschen Grenze geboren. Seine Eltern, der Vater war Textilunternehmer, gehörten zum deutschsprachigen Judentum des Landes.
Kien ging am Realgymnasium in Brünn zur Schule. Er war ein Doppeltalent, wie der Schriftsteller Peter Weiss, mit dem er 1937/38 an der Akademie der Künste in Prag studierte. Er schrieb Gedichte, Erzählungen, dramatische Versuche und Filmdrehbücher. Und er zeichnete fieberhaft mit Bleistift und Feder, mit Kohle und Rötel. Mehr als hundert Ölgemälde entstanden, vorwiegend Porträts jener, die später mit ihm in die Verfolgung gerieten, als ahne er die zukünftige Entwicklung und müsse mit seinen Bildern ihr Leben bewahren. In einem Gedicht aus dieser Zeit heißt es: „ Ich fürchte mich / vor dem riesigen blauen Dunkel / des Todes/ Es packt mich ein Grauen / denk ich an ihn, der heimtückisch lauert...../ Ich will nicht ....“ In seiner Erzählung „Abschied von den Eltern“, beschreibt Peter Weiss die Panikstimmung vor dem Einmarsch der Deutschen in Prag. Ein verzweifelter Jude springt aus dem Fenster und klatscht direkt vor den beiden Freunden auf das Pflaster. Peter Weiss schaut auf Petr Kien: „Seine Atemzüge schluchzten.“ Er schreibt: „Fliehe, Petr Kien, bleibe nicht hier, verstecke dich, du mit deinem hilflos offenem Gesicht.“ Peter Weiss entkommt nach Schweden, Petr Kien schickt ihm sein Jugendwerk nach. Er selbst entkommt nicht. Als er – wie alle anderen jüdischen Studenten – vom Studium ausgeschlossen wurde, besuchte er eine private Graphikschule. Nebenbei gab er jüdischen Jugendlichen in der Weinbergsynagoge Zeichenunterricht. Einer seiner Schüler war Jan Burka, mit dem er sich anfreundete. Er heiratete sein Lieblingsmodell Ilse Stránský, Tochter eines Bankiers, bei dem er zur Untermiete wohnte.
Am 4. Dezember 1941 wurde er nach Theresienstadt deportiert, ebenfalls seine Eltern und seine Frau Ilse. Wie viele andere Künstler, arbeitete er in der Technischen Kanzlei, betätigte sich literarisch, dramatisch und musikalisch. 1942 lernt er die aus Brünn ins Ghetto deportierte Helga Wolfenstein kennen, die, wie er, im Zeichenssal arbeitet. Peter verliebt sich in sie, verbringt seine ganze freie Zeit mit ihr, nimmt sie als Modell und Geliebte, trennt sich von seiner Frau. Jan Burka sagt später: „Ich nehme nichts vom Schrecklichen in unserer ausweglosen Situation weg. Aber stellen Sie sich uns gleichzeitig glücklich vor, weil wir jung waren. Dem Gefangensein sind wir nicht entronnen. Und doch spielten wir unsere Lebenslust frei. Trotz drangvoller Enge im Ghetto habe ich eine Mansarde gefunden, in denen ich mein Modell liebte und malte.“
Die Panik vor dem inneren Absterben, ohne vorher gelebt zu haben, ist groß bei Petr Kien. Er zeichnet, schreibt das Libretto zu der Oper „Der Kaiser von Atlantis„ von Victor Ullmann, die erst 1975 uraufgeführt wurde, schreibt Gedichte, darunter den Zyklus „Die Peststadt“. Petr Kien schrieb im Ghetto das Stück Die Marionetten/Loutky, das in der tschechischen Übersetzung aufgeführt wurde, dessen Text jedoch verloren ging.
Er meldete sich freiwillig mit seiner Frau und den Eltern zum Transport nach Auschwitz am 16. Oktober 1944. Er hatte Helga W. nichts davon gesagt. Bei ihrem letzten Treffen übergibt er ihr 14 Briefe, von denen sie jeden Tag einen öffnen und dann verbrennen soll. Er übergibt ihr einen Koffer mit Gedichten und über 400 Zeichnungen aus der Ghettozeit. Petr Kien übersteht die Selektion auf der Rampe in Auschwitz, aber er kommt durch eine Infektion Ende 1944 ums Leben. Helga Wolfenstein überlebt Theresienstadt und mit ihr die Zeichungen. Sie beginnt in Prag ein Studium, reist dann jedoch nach England, wo eine ihrer Schwestern lebt. Die Zeichungen deponiert sie bei einer Tante in Brünn. Sie werden 1971 von der ČSSR-Regierung konfiziert und der Gedenkstätte in Theresienstadt übergeben.
„Peter Kien stammte aus einer mährischen Kleinstadt und kam 1941, 22 Jahre alt, nach Theresienstadt. Hier verwöhnten einige Gönner den frühreifen Künstler so sehr, daß er manchmal das Maß und die Selbstkritik verlor, dennoch blieb er erfrischend naiv, urwüchsig und einfallsreich, dabei ein selbstloser Freund und Helfer allen anderen Künstlern. Streben nach Wahrheit, doch keine Anklage war seine Absicht, jeder Gegenstand war für ihn zunächst ein Objekt, sein virtuoses Können zu bewähren. Bei einer hohen und anschmiegsamen Intelligenz, war er doch nicht so intellektuell... Er interessierte sich für den einzelnen Menschen, nicht weniger für anonyme Typen wie für die bekannten Lagergrößen. Wen er zeichnen wollte, der konnte sich ihm nicht entziehen, mußte ihm sitzen und wurde von seinen forschenden Augen durchschaut und fast verzehrt. Seine Fähigkeit, Charaktere zu erfassen, kam auch seinen vorzüglichen Karikaturen zugute, die oft bewußt widerwärtig, dann wieder bewußt wohlwollend waren, stets aber etwas Wesentliches enthüllten. Kien bediente sich aller zeichnerischen Techniken und hat auch, weniger gelungen, einige Ölbildnisse hinterlassen. Nebenher versuchte er sich mit weniger Glück, aber auch hier begabt, als Dichter von Dramen, Märchen und Gedichten. Als treuer Sohn ging Kien mit Frau und Eltern im Oktober 1944 in einer Auschwitzer Gaskammer zugrunde.“
Die Peststadt von Petr Kien
I.
Kaum wagt der Blick sich in die öde Weite,
wo schwarz der Peststadt Silhouette droht –
dort ist der Tod.
Wie Trauerfahnen wehn die Rabenscharen,
und ihnen neiderfüllt zur Seite
die Geier und der Pest Geleite.
Verängstigt schleicht der Bauer durch die Auen,
den Tod vor sich dort hinter Wall und Graben,
im Nacken Grauen
und mäht nach der Musik der heisern Raben.
II.
Die Leichen unbegraben auf der Straße liegend,
die Kranken in den Häusern heulend:
das ist die Pest mit ihren schwarzen Beulen,
das ist die Pest, der schrecklichste der Kriege.
Noch klirrt das dünne Eisen der Duelle.
Noch geht der Stolz durch wohlgefüllte Ställe.
Noch gibt es Maskenbälle.
III.
Durch die Straßen rollte der Leichenkarren,
von vermummten Knechten stumm begleitet –
über morsche Knochen hingebreitet.
Und die Luft liegt wie in Barren
Über die entsetzte Stadt gepresst.
Dort im letzten Hause tobt das letzte Fest.
Irre Klänge von zerborstnen Mandolinen,
Reigen von zerfetzten Harlekinen,
Küsse, Blut und Wein hinter verschlossenen Gardinen.
Pest.
IV.
Ohn Atem, kahl, zerrissnes Hemde,
Blei an den Sohlen, Stacheldraht ums Herz,
im eignen Haus ewig Fremde.
Und jeden Tag und jede Stunde zerrt`s
An unserem Leben, wie die Angelrute
Den Fisch aus seinem schleudert uferwärts.
Uns jagt das Leiden wie der Hengst die Stute,
vermählt sich uns mit wieherndem Triumph,
umarmt uns mit den Schnüren seiner Knute.
Ohn Atem, kahl, mit blaugedroschnem Rumpf
Presst uns die Not in ihre Daumenschrauben
Und macht an unserm Fleisch ihr Messer stumpf.
Doch unsere Träume kann uns niemand rauben.