Struktur der jüdischen Bevölkerung Berlins von 1933 – 1945
Die jüdischen Gemeinden Berlins zählten 1933 etwa 160.000 Mitglieder und stellten damit 3,8 Prozent der Gesamtbevölkerung. Neben der Großgemeinde gab es noch die orthodoxe Gemeinde Adass Isroel, deren Mitgliederzahl nicht bekannt ist. Etwa ein Drittel aller deutschen Juden lebte vom Zahlenumfang her in diesem Jahr in der Reichshauptstadt.
Im Juni 1941 lebten noch 73.842 Juden in Berlin, die unter die nationalsozialistische Definition des Rassenbegriffes fielen. Diese hohe Zahl ist auch darauf zurückzuführen, daß in den dreißiger Jahren viele Juden aus kleineren Nachbargemeinden des brandenburgischen Umfeldes nach Berlin zogen, weil sie glaubten, in der Anonymität der Großstadt besser überleben zu können.
Etwa 20% der später Deportierten lebten bei der Volkszählung 1939 noch nicht in Berlin. Neben der Anonymität boten die Sozialeinrichtungen der jüdischen Gemeinde den Verfolgten einen großen Vorteil. Die jüdischen Gemeinden Berlins besaßen eine Vielzahl von Kindergärten, Krankenhäusern, Altersheimen und anderen sozialen Einrichtungen bis hin zum Jüdischen Kulturbund.
Die religiösen und politischen Anschauungen der Gemeindemitglieder waren recht unterschiedlich. Bei den Gemeindewahlen 1930/31 kandidierten Vertreter von 10 Gruppierungen, Liberale verschiedener Richtungen, Zionisten, sozialistische Zionisten, Orthodoxe und Konservative. In den zwanziger Jahren hielten sich Liberale und Zionisten die Waage, 1931 gewannen die Liberalen hinzu, wurden jedoch später von der Gestapo immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Die nationalreligiöse jüdische Volkspartei hatte ihren großen Zulauf dem stetigen Zuzug aus dem Osten zu verdanken. Seit der Jahrhundertwende waren auf der Flucht vor Pogromen vor allem Juden aus Polen und Rußland aber auch aus Rumänien und Ungarn nach Berlin gekommen und hatten sich hier vorwiegend im Scheunenviertel niedergelassen. Die Anzahl der Juden mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit lag Mitte 1933 bei 25–30 Prozent. Die hier lebenden Juden gehörten in der Regel den orthodoxen und konservativen Richtungen an.
Die wohlhabenderen Juden wohnten meist in den Westbezirken der Stadt und waren eher liberal gesinnt. Bereits in den zwanziger Jahren hatten die jüdischen Gemeinden mit der Überalterung und dem Mischehenproblem zu kämpfen. Die Sozialstruktur der Gemeinden war eher mittelständisch. Unter den Gemeindemitgliedern waren überdurchschnittlich viele Kaufleute und Akademiker, wenige Arbeiter.
Sofort nach 1933 setzte eine Fluchtwelle ins rettende Ausland ein. Etwa 80-85 Prozent der Jugendlichen gelang die Flucht.
In Folge hatten die Berliner Juden unter den von den Nazis gerade in Berlin forcierten Verfolgungsmaßnahmen zu leiden.
Berliner Juden in Theresienstadt
Die ersten Deportationen begannen im Oktober 1941, die ersten Transporte nach Theresienstadt im Juni 1942. Insgesamt wurden aus Berlin 50.029 jüdische Menschen deportiert, davon 29,3 Prozent nach Theresienstadt. Die anderen wurden nach Łódź, Riga, Minsk, Kowno, Trawniki, Auschwitz oder mit unbekanntem Ziel in den Osten transportiert.
Alter und Geschlecht der nach Theresienstadt Deportierten
14.663 Männer und Frauen konnten ermittelt werden, die aus Berlin nach Theresienstadt deportiert wurden. Unter ihnen waren 341 Juden, die ihren Wohnsitz nicht in Berlin hatten, sondern zum Zwecke der Deportation nach Berlin verschleppt worden waren. Insgesamt konnten 14.710 Juden festgestellt werden, die nach Theresienstadt deportiert wurden. In diese Zahl eingeschlossen sind auch die jüdischen Menschen, die in die Tschechoslowakei geflüchtet waren und dann von Prag aus nach Theresienstadt gebracht worden waren.
Der erste Transport aus Berlin verließ die Stadt Anfang Juni 1942, der letzte am 27. März 1945. Die Transporte umfassten in der Regel 50 – 100 Personen. Es gab allerdings auch vier Großtransporte mit jeweils über tausend Menschen. Insgesamt waren es 121 Transporte, die von Berlin aus nach Theresienstadt gingen. Im Sommer und Herbst 1942 verließ Berlin fast täglich ein Transport in diese Richtung. Nach der sogenannten Fabrikaktion im Februar 1943, die unter dem Motto stand „Berlin wird judenfrei“, wurden die Transporte spärlicher. Bei der "Fabrikaktion" wurden die Juden nicht aus ihren Wohnungen heraus, sondern in den Fabriken am Arbeitsplatz verhaftet. Die meisten der bei dieser Aktion verhafteten etwa 6.000 Personen wurden nach Auschwitz deportiert, ein großer Transport mit 1.164 Personen ging am 17. März 1943 nach Theresienstadt.
Aufgrund der Ergebnisse der Wannseekonferenz sollten in das Ghetto Theresienstadt vor allem Juden über 65 Jahre, Frontsoldaten, Personen mit Auszeichnungen und aus sogenannten Mischehen gebracht werden. Die Theresienstadttransporte wurden deswegen im Unterschied zu den „Osttranporten“ als „Alterstransporte“ bezeichnet. 78 Prozent der nach Theresienstadt deportierten Personen war im Jahr 1942 zwischen 57 und 86 Jahre alt. Bei allen anderen Deportierten betrug diese Altersspanne nur 43 Prozent. Das heißt aber auch, das nicht alle Personen über 65 Jahre nach Theresienstadt kamen.
Im Jahr 1942 kamen 37 Prozent der über 65jährigen in einen Osttransport. Auffallend ist ebenfalls, daß Frauen mit 2/3 in der Mehrzahl waren.
Neben Frontkämpfern kamen auch Personen nach Theresienstadt, die im öffentlichen Leben, in Kultur und Industrie, Forschung usw. Verdienste erworben hatten. Jüngere Menschen kamen dorthin, weil sie zusammen mit ihren Familien deportiert wurden. Kriegerwitwen waren ebenfalls für Theresienstadt vorgesehen, ebenso Personen aus ´Mischehen, die geschieden worden waren oder deren arischer Partner gestorben war. Es gab 743 Menschen unter den Deportierten, die Kinder unter 14 Jahren erzogen, die als ´Mischlinge ersten Grades´ galten. 92 ´Mischlinge´ waren unter den Deportierten. In 51 Fällen handelte es sich um sogenannte Geltungsjuden. Ein Großteil der Funktionäre der jüdischen Gemeinden kam nach Theresienstadt und auch einige Personen aus dem jüdischen Widerstand (wie z.B. Edith Fränkl aus der Widerstandsgruppe um Herbert Baum).
Während die ärmere jüdische Bevölkerung eher in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg, die wohlhabenderen Schichten mehr in den Westbezirken der Stadt wohnten, hat man festgestellt, daß die ersteren vor allem in die Osttransporte, die begüterten mehr in die Theresienstadttransporte eingegliedert wurden. Etwa 95 Prozent der nach Theresienstadt deportierten Personen besaßen die deutsche Staatsbürgschaft.
Die Überlebenschancen der nach Theresienstadt Deportierten waren größer als in den Lagern des Ostens. Etwa 12 Prozent der dorthin deportierten jüdischen Menschen überlebten. Bei den Osttransporten waren es nur 1 Prozent. Natürlich waren die Überlebenschancen für die Jüngeren am größten. Viele der über 70jährigen starben aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in Theresienstadt. Eine größere Gruppe der über 65jährigen wurde nach Malý Trostinec deportiert. Die meisten der jüngeren kamen in Auschwitz ums Leben oder wurden in andere Lager zur Zwangsarbeit weitergereicht. Für die Überlebenschancen spielte der Zeitpunkt des Transportes nach Theresienstadt ebenfalls eine große Rolle. Bei denjenigen, die ab 1944 deportiert wurden, betrug sie fast 50 Prozent. Nach der Befreiung des Ghettos kehrten viele der befreiten Menschen nach Berlin zurück. Von 1.751 Überlebenden ließ sich in 702 Fällen nachweisen, daß sie nach Kriegsende in Berlin waren und Hilfe in Anspruch nahmen.
Nach einer offiziellen Statistik, die die „Reichsvereinigung“ erstellen musste, lebten in Berlin am 31. März 1945 noch 5.990 Juden (davon an die 2.000 in der Illegalität). Von den 50.029 Juden, die deportiert wurden, kamen an die 2.000 zurück, die meisten aus Theresienstadt. Etwa 1.290 Berliner Juden hatten sich aus Angst vor der Deportation das Leben genommen. Die Mehrzahl der Überlebenden wanderte später aus. Von den Verantwortlichen, die die Deportationen organisiert hatten, wurde niemand verurteilt.
Die Stiftung Neue Synagoge - Centrum Judaicum (Berlin) forscht z. Zt. (2006) zum Freitod von Juden in der NS-Zeit und geht davon aus, daß sich in Berlin mindestens 1.600 jüdische Menschen zwischen 1938 und 1945 das Leben nahmen.
Martha Liebermann, die Witwe des 1935 verstorbenen Malers Max Liebermann, nahm sich im März 1943 das Leben, nachdem ihr die Mitteilung zugestellt worden war, ihre Deportation in ein "Altersheim" in Theresienstadt stehe bevor.