Sommerová, Věra

Věra Sommerová war die Frau Walter Eisingers, der folgende Text stammt aus ihren Erinnerungen:

Im Sommer des Jahres 1940 erließen die deutschen Faschisten eine Anordnung, die jüdischen Kindern verbot, Protektoratsschulen aller Stufen zu besuchen. In dieser Zeit sollte ich in die Oktáva aufsteigen und die Reifeprüfung ablegen. Nach vielen Informationen haben wir erfahren, dass das Studium an einem Gymnasium an einem einzigen Institut im Protektorat, in Brünn, abgeschlossen werden kann. Es war ein Reform-Realgymnasium.

Das erste Halbjahr studierte ich als Privatistin, was jedoch recht schwierig war, weil ich nicht die notwendigen Lehrbücher hatte, und so fuhr ich im zweiten Semester mit Bewilligung der Protektoratsbehörden nach Brünn, um dort die Oktáva zu beenden und das Abitur zu erlangen. Dort begegnete ich bei den Halbjahrsprüfungen, die ich als Privatschülerin absolvierte, zum ersten Male meinen Tschechischlehrer, Prof. Walter Eisinger.

Bis heute weiß ich, was das Thema meiner schriftlichen Arbeit war: „Ein blühender Apfelbaum.“ Die tschechische Sprache war mein Lieblingsgegenstand – und so bemühte ich mich, im Rahmen dieses poetischen Themas meine ganze Phantasie zu entfalten.

Schon damals machte mein Professor auf mich einen starken Eindruck. Ein junger gutaussehender, sympathischer Mann, sehr freundschaftlich und unformell. An das Brünner Jüdische Gymnasium kam er aus demselben Grund wie wir alle – er durfte an keinem anderen Institut unterrichten.

Je schneller der Vorfrühling nahte, um so intensiver fühlte ich, daß die Vorträge aus tschechischer Literatur für mich die interessantesten von allen Gegenständen waren. - Und um so mehr steigerte sich unser „Augenkontakt“, wie Walter später behauptete. Wir fühlten, daß etwas geschehen musste. Bis mir unser Schuldiener (gleichfalls ein vom Regime ausgeschalteter Mann) eines schönen Märzmorgens einen Brief brachte und mich zugleich ersuchte, meinen Mitschülern nichts von dessen Inhalt zu sagen. Mit klopfenden Herzen las ich die ersten Zeilen des Briefes: „Sie so ansprechen, wie es die gesellschaftliche Konvention verlangt, will ich nicht, Sie so ansprechen, wie ich möchte, kann ich nicht, ich bitte deshalb um Verzeihung, daß dieser Brief überhaupt keine Anrede hat.“

Damit begann zwischen einem achtundzwanzigjährigen Lehrer und seiner neunzehnjährigen Schülerin eine romantische heimliche Liebe, die sich in den härtesten Prüfungen des Lebens bewährt hat.

In Brünn trafen wir einander täglich vom 24. März bis zu meiner erzwungenen Abfahrt nach der vorzeitigen Schließung der Schule von Seiten der Deutschen im Mai 1941.

Wir trafen einander stets an der Endstation einer der Straßenbahnlinien – und Řeckkovice, Baba und die übrige nahe Umgebung von Brünn waren für uns in diesem Frühling die schönsten Orte auf diesem Planeten. In jener Zeit durften wir nach acht Uhr abends nicht mehr die Wohnung verlassen, und so hatte ich für mein Studium die ganzen Abende. Obwohl die Zeiten damals schlimm waren und wir nicht wussten, was mit uns weiter passieren würde, planten wir eine gemeinsame Zukunft. Walter bezweifelte nie das Ergebnis des Kriegsabenteuers der Nazis. Bei unseren Spaziergängen debattierten wir darüber, was wohl nach dem Krieg geschehen und wie sich die Welt verändern würde.

Nach meiner Rückkehr nach Hause (damals wohnten wir schon in Solopysky bei Horní Černošice, wohin wir übersiedelten, als unser Haus in Kralupy konfisziert wurde) schrieben wir einander, Walter und ich, wenigstens zweimal in der Woche, und seine Briefe erwartete nicht nur ich mit Ungeduld, sondern meine ganze Familie. Obwohl meine Eltern Walter noch nicht persönlich kannten, hatten sie ihn aufgrund seiner Briefe und meines Erzählens schon für sein aufrichtiges, ehrenhaftes und herzliches Verhalten so lieb gewonnen, daß meine Mutter erklärte, ihn so zu mögen wie einen weiteren Sohn.

Dann kam eine böse Nachricht: Im Januar 1942 wurde Walter in das Konzentrationslager Theresienstadt berufen und unser schriftlicher Kontakt musste sich auf einige Korrespondenzkarten mit dreißig Worten in Druckschrift beschränken. Aber auch dann, in einigen kurzen Zeilen, verstand er auszudrücken, was er fühlte und daß er nicht aufhörte, an mich zu denken.

Im September des Jahres 1942 sahen wir einander endlich in Theresienstadt wieder, wohin auch meine ganze Familie deportiert wurde. Obwohl die Verhältnisse dort sehr schlimm waren – Hunger, Krankheiten, Mangel an den grundlegenden hygienischen Bedarfsartikeln, Überfüllung der kleinen Stadt, erschöpfende Arbeit, ständige Angst vor Transporten, unbekannt wohin – war das eine Zeit, die ich in Gegenwart Walters leicht ertrug, es war eigentlich die glücklichste Zeit meines Lebens, weil ich sicher war, daß er mich liebte, und wusste, daß ich mich auf ihn verlassen konnte.

Wir arbeiteten beide in der Jugendfürsorge. Walter als Leiter eines Jugendheims für Jungen, von denen er mir oft erzählte und für die er sich bemühte, nicht nur ein guter Pädagoge zu sein, sondern ihr Freund, Ratgeber und Vertrauensmann. Ich begann, als Fürsorgerin im Kinderheim zu arbeiten und später im Kindergarten. Ich hatte keine Erfahrung im Umgang mit Kindern, hatte sie bloß gern und sie taten mir schrecklich leid, in den Bedingungen, unter denen sie leben mussten. Die Kinder fühlten es. Wann immer wir uns mit Walter in den Straßen von Theresienstadt zeigten, liefen uns unsere Kinder zu. Wir lachten, daß die Arbeitszeit für uns niemals zu Ende ist. Wir debattierten lange über die einzelnen Kinder, wie man am besten mit ihnen umgehen sollte. Jedes Kind war ein ausgeprägtes Individuum, seien es die Kleinen von vier bis sechs Jahren oder Walters dreizehn- bis vierzehnjährige Jungen.

In Theresienstadt war ich auf Walters Karteikarte als seine Verlobte eingetragen. Die SS-Leute versprachen uns, daß sie uns nicht gewaltsam trennen würden, und sollte einer der Partner in einen Transport eingereiht werden, werde der andere Partner mit ihm gehen können.

Meine Eltern mussten mit meinen Geschwistern im Dezember 1943 nach Auschwitz-Birkenau fahren und ich blieb mit Walter und seiner Mutter in Theresienstadt. Walters Vater war sehr krank und starb bald nach der Abfertigung dieses Transportes. Walter kümmerte sich fürsorglich um mich und erleichterte meine Trauer wegen der Trennung von meiner ganzen Familie, so gut er konnte. Es war für mich damals ein fürchterlicher Gedanke, daß die Meinen ins Ungewisse fahren, daß ich nicht bei ihnen bin und sie vielleicht nie mehr wiedersehen werde.

Ich träumte immer davon, daß wir nach dem Krieg unter normalen Verhältnissen und im Kreise unserer Familien heiraten würden. -Aber dann kam der Juni des Jahres 1944 und neue Transporte begannen uns zu beunruhigen. Wir hatten Angst, ob man uns zusammenlassen würde, und so reichten wir ein Gesuch für eine Eheschließung in Theresienstadt ein, die uns berechtigte, als Eheleute aufzutreten, uns vor gewaltsamer Trennung schützte und den Frauen gestattete, ihrem Mädchennamen den Namen des Gatten hinzuzufügen.

Am 11. Juni 1944 hatten wir im Rathaus von Theresienstadt Hochzeit. Bis zum letzten Augenblick verheimlichten wir sie. Wie groß war jedoch unsere Überraschung, als es unsere Kinder dennoch erfuhren und uns solche Ovationen bereiteten, wie wir von ihnen im zivilen Leben nicht einmal geträumt hätten. -Das Rathaus von Theresienstadt war um halb elf zum Bersten voll von Kindern, ihren Eltern und unseren Fürsorge-Kollegen. Meine Kolleginnen hatten die armen Kleinen aus dem Kindergarten von einem Tag auf den anderen einen gereimten Glückwunsch gelehrt. Zuerst trug ihn eine Gruppe tschechischer Kinder vor, dann eine deutsche Gruppe (aus Deutschland deportierte Kinder). Zum Schluß bildeten die Fürsorgerinnen mit ihren Händen über uns einen Torbogen, durch den wir das Rathaus verließen, und jedes Kind reichte uns eine Margerite. Ich bekam einen ganzen Arm voll. Diese Blumen und meinen Hochzeitsstrauß aus Gladiolen hatte eine Gruppe von Häftlings-Landarbeitern, die vor den Toren Theresienstadts arbeiteten, ins Ghetto geschmuggelt. In Theresienstadt gab es keine Blumen. Vor dem Rathaus reihten sich Walters Jungen hinter uns leise in Zweierreihen und führten uns feierlich ins Heim, wo sie uns ein kolossales Geschenk bereitet hatten – eine große Torte aus gesparten Buchteln, die es einmal in der Woche zum Mittagessen gab. Die armen Jungen – wir freuten uns immer die ganze Woche auf dieses einzige steinharte Stück – und sie hatten auf diesen Genuß verzichtet. Irgendeine Mutter hatte daraus mit Hilfe eines Kriegspuddings eine Torte fabriziert. Walter bekam von den Jungen eine schöne Füllfeder als Hochzeitsgeschenk. Ich wollte, daß man diese Torte gleich hier im Heim unter alle aufteilt und isst, aber davon wollten die Jungens nicht einmal hören und ließen es nicht zu. Das, so sagten sie, sei ein Beitrag für unsere Hochzeitstafel. Die war dann wirklich großartig - Kräutertee, gesüßt mit Sacharin, und andere Leckerbissen aus gesparten harten Buchteln. Am Nachmittag luden wir in die Mansarde, die die Fürsorger eigenhändig auf dem Dachboden der Schule hergestellt hatten, eine Gruppe einstiger Mitschüler und Professoren vom Brünner Gymnasium ein und am Abend eine weitere Gruppe von Kollegen und Kolleginnen von der Jugendfürsorge, die auch in der Schule wohnten. Dazwischen lief Walter noch davon, um mit dem Chor Verdis Requiem zu singen, das Rafael Schächter einstudierte und dirigierte. Walter hatte einen schönen Tenor und sang sehr gern, sogar den Solopart des Prinzipals in der Verkauften Braut, und das Singen unter Schächters Leitung war für ihn eine ungeheure physische (eher: psychisch, die Lektorin) Ermunterung in diesem Milieu voller Niedergeschlagenheit und Sorgen. Im Chor gab es damals wenig Tenöre, die Transporte tobten und beschädigten den einstudierten und eingesungenen Chor immer empfindlich. Und so haben wir uns geeinigt, daß Walter an unserem Hochzeitstage singen geht, um die Tenöre zu verstärken. Ich bekam eine Freikarte für das Konzert, für das es stets großes Interesse gab. Rafík Schächter war phantastisch. Am Ende des Konzerts beglückwünschte er uns unter dem mächtigen Applaus des zahlreichen Publikums zu unserer Hochzeit und beendete den Glückwunsch mit einer Umarmung und einem Kuss. -Wie oft habe ich mir später unser Hochzeitsrequiem in Erinnerung gerufen, daß vielleicht eine Vorahnung der weiteren tragischen Begebenheiten war.

Auch nach der Hochzeit wohnten wir weiter getrennt, wie übrigens fast alle Ehen in Theresienstadt. Erst nach der Liquidierung der Schule, die von den Nazis eingenommen wurde, und nach der Übersiedlung ins Haus der Feuerwehr gelang es Walter und mir, einen kleinen Raum für uns zu ergattern, eine abgesonderte Ecke in einem großen Saal (2 x 2 m) – genau Pritsche mal Pritsche. Das war für uns der Höhepunkt des Glücks. Wie war ich selig, einen eigenen Haushalt zu haben, mit welcher Liebe und welcher Sorgfalt haben wir unsere kleine Ecke in der primitivsten Weise eingerichtet, uns schien es jedoch ein absoluter Luxus zu sein.

Und nach unseren vierzehn glücklichsten Tagen kam eine neue Katastrophe. Auf Befehl der Nazis wurden Transporte zusammengestellt, diesmal nur aus Männern und Walter wurde in einen der ersten eingereiht. Ich verhielt mich überhaupt nicht tapfer. Ich war völlig erledigt, heulte, wo ich stand und ging. Mein Leben hatte seinen Sinn verloren. Wenn ich mir vorstellte, daß mein Walter, dieser unpraktische Lehrertyp, ehrenhaft bis ins Extrem und manuell ungeschickt, irgendwo in Hunger und Schmutz weiteren Schikanen und Schwierigkeiten ausgesetzt sein und daß ich nicht bei ihm sein würde, daß wir umeinander ständig Angst und Sorge haben würden, so war das für mich unvorstellbar.

Durch einen Zufall erfuhr ich, daß in den fünften Transport nur 500 Männer eingereiht werden und als Ergänzung zu eintausend Personen könnten auch Frauen genommen werden, die sich freiwillig zu ihren Männern melden. -Wiederum einer der beliebten Tricks der Nazis, die schon so oft ihr Versprechen nicht gehalten haben. Ich lief in Theresienstadt herum und versuchte mit allen Mitteln, Protektion aufzutreiben, um möglichst bald wieder mit Walter zu sein. Was würde er denn sagen, wenn ich nicht käme! Wir hatten einander doch versprochen, daß ich bei erster Gelegenheit versuchen würde, ihm nachzukommen. Endlich gelang es mir nach zahlreichen Interventionen, und ich zwängte mich ganz glücklich in einen überfüllten Waggon.

Anstatt in einem Arbeitslager in Deutschland, wie man uns versprochen hatte, kamen wir in Auschwitz an. Der berüchtigte Doktor Mengele führte die Selektion durch, bei der er mich beinahe ausreihte, weil ich ihm allzu schwach vorkam. Daß das die Gaskammer bedeutet hätte, habe ich erst später erfahren. Zu unserem Empfang schoß ein SS-Mann, der uns bewachte, auf ein Mädchen aus dem Lager, an dem wir vorbei gingen und aus dem uns zugerufen wurde, daß sie dort Hunger haben und wir sollten ihnen etwas zu essen zuwerfen. Als Antwort auf eine Konserve, die aus unserem Zug hinüberflog, ertönte der Schuß des SS-Mannes und das junge Mädchen, das die Konserve aufgefangen hatte, sank mit blutüberströmten Gesicht in den Schlamm.

Das war das Ende aller meiner Vorstellungen von menschlichem Handeln. Ich war so fertig und apathisch, als man uns in ein gräßliches Frauenlager einsperrte, wo es keine Hoffnung gab, daß wir unsere Männer wenigstens sehen könnten, daß ich nur mehr eine Sehnsucht hatte: mich zu vergraben und wie ein Maulwurf unter der Erde zu verschwinden, nichts zu sehen und nichts zu hören und nichts wahrzunehmen. Dann absolvierte ich nur passiv alle Selektionen und betete bloß, daß mich Walter in diesem verelendeten Zustand, in den Fetzen, im Schmutz und mit kahlgeschorenen Kopf nicht sieht.

Von Walter erfuhr ich von der Mutter eines Jungen aus seinem Heim, die in der Auschwitzer Selbstverwaltung war, daß er im Männerlager ist und versucht, mich wenigstens über den Drahtverhau zu erblicken, wenn ich zur Arbeit gehe. Ehe das geschehen konnte, fuhren wir mit einem Frauentransport nach Deutschland in das Arbeitslager in Freiberg in Sachsen und ich habe meinen Walter nie mehr gesehen. Er kam später nach Buchenwald, und beim Todesmarsch wurde er angeblich am 15. Januar 1945 erschossen.

Mir blieben nur Erinnerungen und ein Häufchen Briefe, die den Krieg in einem Versteck überlebt haben. Erinnerungen an einen Menschen, den in meinem Leben niemand je ersetzen konnte, und Briefe, die selbst nach dreißig Jahren nichts von dem innigen Gefühl und der Zärtlichkeit eingebüßt haben, die er seinen Lieben zu geben verstand.

Quellen

  • 690
    690. Křížková/Kotouč/Ornest (Hg.) , Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt Dausien-Verlag, , Hanau 1995 , S. 162ff.

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